Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Epoche und die Bilder einer Lebensform, die untergegangen ist.
(2005)
RUSSISCHER RAUM
E s sind nicht wenige in meiner Generation, die mit guten Gründen darauf hoffen konnten, noch ein Russland zu erleben, das die Schrecken des 20. Jahrhunderts und die Zeit der postsowjetischen Wirren endgültig hinter sich gebracht haben wird. Ein Russland jenseits der Exzesse, utopischen Versprechungen und unermesslichen Opfer, Russland endlich als ein nur »normales Land wie andere auch«! Nun ist längst klar, dass die Geschichte sich nicht an Programme oder Fahrpläne hält, dass Russland seine eigenen Wege geht und sich die Zeit nimmt, die es für sich braucht. Das ist gewöhnlich die Stunde der Resignation und der Enttäuschung besonders bei jenen – zu denen ich mich auch rechne –, die sich nun schon fast ihr ganzes Leben auf dieses Land eingelassen haben. Schmerz unerwiderter Liebe schwingt da mit, noch mehr aber Ratlosigkeit. Tjutschews Diktum, dass Russland mit dem Verstand nicht zu begreifen sei, scheint wieder einmal, wie oft schon, bestätigt. Aber man könnte auch sagen: Es ist die Stunde, in der wir unsere Kategorien, unsere Maßstäbe, unsere analytische Matrix überprüfen und uns einlassen müssen auf Untersuchungen mit offenem Ausgang. Ratlosigkeit ist dann nicht billige Ausrede für das Hinnehmen dessen, was ohnehin geschieht, sondern die Bereitschaft, neues, ungesichertes Terrain zu begehen. Offensichtlich ist das Auseinanderbrechen eines über Jahrhunderte hin gewachsenen und nicht nur durch Gewalt zusammengehaltenen imperialen Raums ein Vorgang, der sich nicht in schlichten Modellen einer Transition von A nach B beschreiben und erfassen lässt. Offensichtlich ist es eine Illusion der Machthaber wie der Analytiker gleichermaßen, sich als Herr eines Verfahrens zu sehen, wo sie in Wahrheit doch nur Getriebene oder teilnehmende Beobachter sind – bestenfalls. Russland wird auch in Zukunft die Anhänger des wildesten Denkens in Atem halten. Vielleicht ist jetzt erst der Zeitpunkt gekommen, in dem eine der radikalsten Selbstreflexionen der russischen Intelligenzija – der Essayband »Wegzeichen« aus dem Jahre 1909, erschienen wenige Jahre nach der ersten russischen Revolution – endlich ihr spätes Echo in Resteuropa findet.
Auf verlorenem Posten?
Russlandfreunde und Russlandversteher
20 Jahre nach dem Ende
der Sowjetunion
Das Leben besteht nicht aus Anekdoten, aber in Anekdoten verdichtet sich manchmal doch etwas Charakteristisches. Es ist Jahre her, im Jahre 2003, als Sankt Petersburg den 300. Geburtstag seiner Gründung beging, als ein Kreuzfahrtschiff, über verschiedene Häfen an der Ostseeküste kommend, sich der Stadt näherte. Ich hatte damals die angenehme Aufgabe, zusammen mit anderen Kennern und Freunden Russlands die fast 1000 Passagiere auf den bevorstehenden Besuch Sankt Petersburgs vorzubereiten. So gab es im Kinosaal Vorträge über die wechselhafte Geschichte, über die Kunstlandschaft, über die Museen, und alle waren gespannt, was sie erwarten würde, als das weiße Schiff an Kronstadt vorbei auf die Stadt zufuhr. Aller bemächtigte sich eine Unruhe, Nervosität, Gespanntheit, denn für die meisten war dies ihr erster Besuch in Russland und in dieser Stadt. Es waren auch ältere Herrschaften dabei, die das Land im sogenannten »Russlandfeldzug« kennengelernt hatten. Ein interessiertes, aufgeschlossenes, meist bildungsbürgerliches Publikum, offen, um neue Erfahrungen zu machen und die Meinungen und Vorurteile, die über die Sowjetunion aus der Zeit des Kalten Krieges noch im Schwange waren, sein zu lassen. Man war gespannt auf diesen Landgang, den man sich schon nach gründlicher Lektüre der Reise- und Museumsführer imaginierte: die Schätze der Eremitage, ein Ausflug zum Katharinenpalast in Zarskoje Selo, ein Bummel über den Newski-Prospekt.
Aber es kam dann ganz anders – ob es an der schlechten Vorbereitung der Reiseorganisation lag, an der damaligen Unbestimmtheit der Visa- und Einreisebestimmungen, am menschlichen Versagen vor Ort: ich kann es nicht sagen. Jedenfalls durften die für den Landgang bereiten und äußerst angespannten Passagiere für zwei Stunden das Schiff nicht verlassen. Man war in den abgelegensten Teil des Petersburger Industriehafens geleitet worden, in ein von Rost und Ruß starrendes, mit zahllosen Schiffswracks belegtes Dock, von der weißen Stadt mit ihren goldenen Nadeln und Spitzen war weit und breit nichts zu sehen. Alle mussten noch einmal
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