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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Europa. Dazu gehören vielleicht auch die diversen Händler und Schmuggler (Waffen, Menschen, Drogen), deren aggressive Intelligenz stärker ist als die Strategen, die sich einbilden, die Herren des Verfahrens zu sein. Es sind vielleicht eher die Ingenieure, die neue Brücken und Korridore errichten, als jene Visionäre, die immerzu vom Bau des »europäischen Hauses« sprechen. Man erfährt unendlich viel Neues, wenn man einem Banker zuhört, der neue Stützpunkte der Geld- und Kapitalzirkulation errichtet und sich aus eigener Anschauung ein Urteil über die »Ökonomik der Transformationsperiode« bildet. Wie viel aufschlussreicher sind die Erzählungen von Grenzbeamten, die Tag für Tag mit den Grenzgängern zu tun haben. Eine neue Klasse von transnationals und expatriates hat sich herausgebildet, sie lässt sich, je nach wirtschaftlicher oder politischer Konjunktur, von einem Ort zum anderen treiben: heute Prag, morgen Budapest, später vielleicht Bukarest oder Kiew. Europa hat auch seine geistigen Ameisenhändler.
Bilder einer Ausstellung
    Vielleicht ist jetzt die Zeit für eine Ausstellung, zu der wir im Moment des Geschehens nicht die Muße hatten. Jede Zeit hat ihren spezifischen Blick. Eine Spätzeit wahrscheinlich einen der Gelassenheit, des »Ins- Auge-Sehens«, fatalistisch-ruhig, auch melancholisch. Aufbruchzeiten sind noch zu nahe an den Ereignissen, nervös, hektisch. Vielleicht stellt sich jetzt das Mittlere ein. Die sich verändernde Welt gab sich zu erkennen. Der Dogmatismus des alteingesessenen, wohlanständigen und allzu selbstsicheren Europa ist dabei, sich aufzulösen. Die Zeit, da man das Neue als exotisch abtun konnte, ist vorbei. Es hat allzu lange gedauert, bis man wieder anfing, den eigenen Augen zu trauen.
    Eine post festum arrangierte Ausstellung der Übergangsperiode würde die Bilder zusammenbringen, die uns die Transitionsforschung vorenthalten hat. Es sind die Bilder, die einmal den Zeithorizont der Generation ausmachen und die in der familialen Erzählung weitergegeben werden. Es sind vor allem Farbbilder, Kodak oder Fuji, oder sogar Videobilder, jedenfalls nicht mehr Schwarz-Weiß, die Farbe der Vorkriegs- und der Nachkriegszeit. Im Katalog dieser Ausstellung wären nicht so sehr die historischen Augenblicke festgehalten, die wir alle kennen – die Evakuierung Ceauşescus, die Öffnung der Berliner Mauer, Sacharows Auftritt vor dem Obersten Sowjet –, sondern die sich verändernde Umgebung, die molekularen Prozesse und kapilaren Verästelungen. Man kann darauf die weiß-blau-rot gestreiften Polyethylen-Taschen sehen, abgestellt auf Bahnsteigen und an Omnibusbahnhöfen, an Grenzübergängen und auf Fähren, gleichsam die Farbe der Grenzdiffusion, der Subversion der Warenzirkulation, die Bagage einer ganzen Generation von Ameisen- und Kleinhändlern, die Europa von einem zum anderen Ende durchfahren und zu ihrem Handels- und Erfahrungsort gemacht haben. Dort würde man Bilder von der Hagia Sophia, von der Pier von Saloniki oder Palermo im Hintergrund finden, wo Touristen an Land gegangen sind, aber nicht des Tourismus wegen. Das Album enthielte Bilder einer neuen Welterfahrung: Nun sind die türkische Riviera oder Spanien oder Italien dabei. Der Reisebüroprospekt ist nicht nur ein Reklamezettel, sondern das ästhetische Zeugnis einer großen Go-West-Wanderung, vergleichbar nur dem, was Westeuropa in den 1950er und 1960er Jahren hinter sich gebracht hatte. Das Album zeigte Städte, die bisher eher im Abseits gelegen hatten und nun aus der Versenkung wieder aufgetaucht sind. Man würde in dieser Ausstellung die charakteristischen Objekte der materiellen Kultur des Übergangs wiederfinden: Getränke und Säfte in allen Farben und in Plastikflaschen abgefüllt; Sneakers, aus der Türkei herbeigeschafft; Baumarkt-Inventar zum Datschenausbau; Plastikstühle, mit denen die ersten Straßencafés renommierten; Alu- und PVC -Fenster- und Türrahmen als Zeichen von Euroremont; wattierte Türen, die endlich ausrangiert werden; Kinderbücher, die man nun nicht mehr aufbewahren und an die nächste Generation, die es lieber mit Videospielen hält, weitergeben will; sozialistische Orden, Auszeichnungen, Urkunden, die ihren Weg auf die Ramschtische der Touristenzentren gefunden haben; Denkmäler, die gestürzt sind und nun entsorgt werden müssen; ausgemusterte Bibliotheken von Schulen und Kulturzentren, für die kein Lehrplan mehr Verwendung hat; ausgeräumtes Mobiliar – das Gehäuse einer

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