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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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darüber aus, ob auf den Fahrplan Verlass ist, und die Gelassenheit, mit der Leute auf ihren Bus warten, besagt, dass er kommt. Eine große Zeit des Vergessens ist angebrochen: Die einst allgegenwärtigen Warteschlangen sind den Jungen schon kein Begriff mehr. Die Vorstellung, dass man außerhalb der großen weiten Welt sein könnte, kommt schon nicht mehr auf bei denen, die inzwischen in Berlin, Wien oder Istanbul waren. Manche Horrorszenarien haben sich nicht bewahrheitet: Die Woge des Konsum- und Verpackungsmülls, die nach der Wende über den Ostblock hereingebrochen war, ist mittlerweile gebändigt. Andere wiederum haben die düstersten Befürchtungen verblassen lassen: In den Greueln auf dem Balkan und im Nordkaukasus war nach einem halben Jahrhundert der wirkliche Krieg, nicht der Krieg als Simulation nach Europa zurückgekehrt. Man hat inzwischen gelernt, sich auf neue soziale Phänotypen einzustellen: auf Leute, die immerzu in schwarzen Limousinen mit schwarzgetönten Scheiben gefahren werden und denen die Tür geöffnet wird von glatzköpfigen jungen Männern mit earphones , deren Schnüre im Nacken verschwinden. Alles besagt etwas: die Preissteigerung für Metro, Busse und Züge, die mit Strichcodes versehenen neu gekauften Bücher, das Design eines neuen Restaurants. Man findet Indizien dafür, ob die Modernisierung nur ein punktuelles, insulares Ereignis ist oder sich ausbreitet und von Dauer ist. Ein Blick auf die Fassaden sagt uns etwas über die Inwertsetzung von Innenstädten, über die Privatisierung des Wohnungsmarktes. Der Triumph von IKEA klärt uns darüber auf, dass eine ganze Gesellschaft sich neu möbliert und das Mobiliar einer zu Ende gegangenen Epoche auf den »Abfallhaufen der Geschichte« wandert. Man kann die Beschleunigung der Zeit in den osteuropäischen Metropolen ebenso messen wie deren Verlangsamung draußen in der Provinz, den Eintritt ins digital age ebenso wie die Regression in die Subsistenzökonomie der Vormoderne. Das Geräusch, das die Reifen auf den Pflasterstraßen und Alleen erzeugt haben, verstummt und weicht dem Geräusch, das glatter Asphalt hervorruft – so geht der Sound einer Epoche zu Ende. Gerüche verschwinden: der beißende Geschmack der Papirossy Marke »Belomor« oder der Geruch verderblicher Lebensmittel. Was früher Fiskultura war, heißt jetzt Fitness, und was einmal eine Turbasa war, nennt sich jetzt Wellness-Center. Die Zahl der neuen Hochhäuser in downtown Warschau, die gläsernen Türme von Tallinn oder am Potsdamer Platz sind alle gebaute Dementis einer einmal spektakulären These vom »Ende der Geschichte«. Die Zeit, die einmal festgestellt war, ist losgelassen. Das Einzige, wovon der Ostblock im Überfluss hatte – Zeit –, ist nun knapp geworden. Die Abfertigungsprozedur an den Flughäfen verrät, dass die nationalen Zeiten Anschluss gefunden haben an die Weltzeit. Jede Reise in die Region im letzten Jahrzehnt war eine Reise in das Auseinanderfallen der alten Zeit und die Homogenisierung der Zeit der neuen Räume. Herstellung von neuen Zeiträumen, Verfertigung von neuen Erfahrungs- und Lebenshorizonten. Ortsbesichtigungen, wenn sie nicht bloß den Sehenswürdigkeiten gelten, sondern dem Lebensprozess, sind Formen von Zeitdiagnose. Sie kann an der Metamorphose öffentlicher Plätze Verfallszeiten und Inkubationszeiten ablesen. Es ist jene Situation, in der Zeitgenossen zu Historikern und Historiker zu Zeitgenossen werden.
    Die Experten, die die Bilder zusammenstellen könnten, in denen die Zeit des Übergangs geronnen ist, die Kuratoren, die eine Ausstellung der Transformationsperiode betreuen könnten, sind vermutlich nicht die berufsmäßigen Beobachter und Kommentatoren, also die Intellektuellen und Schriftsteller. Sie waren noch in der Übergangszeit vor allem zuständig für die Träume von Europa und für die Kritik einer Realität, die das Pech hatte, von diesen Träumen abzuweichen. Hätte es doch Leute vom Format Georg Simmels gegeben, die in den Zentren des neuen Europa – in Budapest, Warschau oder Petersburg – ihre Antennen aufgestellt und den Bildungsprozess der neuen Gesellschaft aus der Nähe beobachtet und analysiert hätten! Und doch gibt es eine neue Schicht, kenntnisreich und beweglich, die die Bilder vom veränderten Europa zusammentragen wird. Das sind vielleicht die Logistiker und Spediteure, die die neuen Routen ausgearbeitet haben; sie alle sind Spezialisten für die Erkundung der kürzesten Wege in einem erweiterten

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