Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
exekutiert, ohne dass auch nur einer der Killer je dingfest gemacht wird, und in diesem Russland rollen die schwarzen Limousinen, die Cherokees, Humvees, Lamborghinis und Maybachs.
Und wir haben es satt, immer wieder auf dieses Russland angesprochen zu werden: auf die Leute, die nicht wissen, was Eigentum ist, weil sie es nicht selbst erarbeitet, sondern sich unter den Nagel gerissen haben; wir sind es müde, über das Treiben der neuen Russen auf Zypern und in den Casinos von Monte Carlo angesprochen zu werden, und wir haben zu dem soundsovielten Auftragsmord nichts mehr zu sagen. Wir sind irgendwie am Ende mit unserer Weisheit und sagen dann etwas vom Chaos der Übergangsgesellschaft; dass solche Prozesse durchaus nicht einzigartig seien, denn auch Amerika habe einen langen Weg von den robber barons zu den später angesehenen Familien der Mellons, Rockefellers und Carnegies zurückgelegt; und dass wir über diesen Exzessen nicht übersehen sollten, dass es noch etwas anderes gibt: ein normales, durchschnittliches, gewöhnliches Russland, ein »Russland wie du und ich«, eines, das uns irgendwie zugänglich und verständlich ist, von dem wir verstanden haben oder zu verstehen glauben, wie es tickt.
»Russlandfreunde« und »Russlandversteher« – das sind Vokabeln, die im öffentlichen Raum und in der politischen Auseinandersetzung kritisch, wenn nicht denunziatorisch gemeint waren. Die Russlandfreunde und Russlandversteher, so lautete der implizite Vorwurf im letzten Jahrzehnt, würden Sonderkonditionen für die Betrachtung und Bewertung Russlands fordern. Russlandversteher hätten im Grunde ein unkritisches und apologetisches Verhältnis. Wenn immer es um die Universalia der Menschen- und Bürgerrechte ginge, dann würden die Russlandfreunde Russland mildernde Umstände und Sonderrechte des Verstehens einräumen, bis hin zu der auf Fjodor Tjutschew zurückgehenden Formulierung, dass Russland mit dem Verstand eben nicht zu begreifen sei. Die Vokabel spielte eine Rolle, als es um die Bewertung des Verhältnisses zwischen der deutschen und russischen Regierung ging, als die Verlegung von Unterseepipelines durch die Ostsee diskutiert wurde, bei der Frage, welche Haltung man zur Beeinträchtigung der Arbeit von ausländischen Stiftungen in Russland oder zur Aufklärung der Journalistenmorde einnehmen sollte. Die Vokabel hatte sehr viel mit der innenpolitischen und parteipolitischen Spannungslage zu tun, war mehr ein Signal oder Indikator für etwas. Man sollte daran erkennen, wer es ernst oder ernster meinte mit den Menschenrechten.
»Russlandfreunde« und »Russlandversteher« – das zielte auch gegen eine vermeintliche oder wirkliche Verklärung der russischen Verhältnisse oder der deutsch-russischen Beziehungen, die ihrerseits wieder eine lange, über Jahrhunderte sich erstreckende Genealogie hatten: Hier war dann von Tauroggen, Bismarck, Rapallo und anderen lieux de mémoire die Rede, und es konnte vorkommen, dass der Bezug auf die positive Linie der deutsch-russischen Beziehungen als purer Sentimentalismus abgetan wurde.
Nun ist es nicht schwierig, in den deutsch-russischen Beziehungen eine sentimentale Note oder Tendenz auszumachen. Zu tief, zu gravierend haben sich die schrecklichen Zusammenstöße zwischen unseren beiden Völkern in die mentale und geistige Ökonomie unserer Gesellschaften eingeschrieben. Es ist vor allem die Kriegserfahrung, die der Generation der Väter und Großväter in den Knochen steckte, die für diese mentale Grundierung des deutsch-russischen Verhältnisses bis auf den heutigen Tag verantwortlich ist. Wie sollte es auch anders sein: Krieg, der Horror des Besatzungsregimes, Verwüstungen, unermessliche Leiden, Abermillionen von Toten, mitangesehene Verbrechen, Gefangennahme und Kriegsgefangenschaft – wie sollte das nicht seine Spuren hinterlassen und über die familiale Erzählung noch weit in die nächsten Generationen hineinreichen! Es steht den Russen und Deutschen, die sich in der äußersten Verfeindung eines Kampfes auf Leben und Tod ineinander verkrallt hatten, gut an, diesen auch bis in die letzte Faser ihrer Existenz hinein zu spüren. So etwas lässt sich nicht einfach mit dem Kopf oder in Denkoperationen abtun.
Diese Grundierung zeigt sich in der Berichterstattung über das Land auch noch ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende. Denken wir an die großen Reportagen unserer wichtigen Fernsehleute, die in der Sowjetunion bzw. in Russland gearbeitet haben – Fritz
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