Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
durchaus keine Selbstverständlichkeit war. Selbst auf der Transsib ist man heute nicht mehr »aus der Welt«. Seit es das Handy und die Sendemasten gibt, ist Sibirien nicht mehr, was es einmal war.
Oder nehmen wir jene andere Prozedur, die den Heutigen nur schwer verständlich zu machen ist: die Versendung von Büchern nach Hause. Es konnten sehr viele sein, die sich im Laufe eines Jahres angesammelt hatten. Sie in Listen zu erfassen und damit in eine Abteilung der Lenin-Bibliothek zu gehen, die die Genehmigung erteilte, war das eine, die Details dieser Prozedur das andere: Autor, Name, Vatername, Titel, Verlag, Ort und Jahr des Erscheinens, Seitenzahl, Auflagenhöhe, Preis – und dies mit sechs Durchschlägen. Das war Arbeit, die Wochen vor der Rückreise begonnen werden musste.
Man könnte Beispiele für die Beschwernis der alltäglichen Bewegungen anführen, die den Heutigen kaum noch zu vermitteln sind: die Beschaffung eines Eisenbahn- oder Flugtickets, die Registrierung am jeweiligen Ort – um nicht zu reden vom Einfachsten und Elementarsten, der Nahrungsaufnahme. Heute, da russische Großstädte voll sind von Imbissen, Cafés und Restaurants, ist schwer nachzuvollziehen, dass es einmal eine Zeit gab, in der eine spezielle Findigkeit erforderlich war, um sich Zutritt zu solchen zu verschaffen. Die Aufrechterhaltung der gewohnten Produktions- und Effizienzstandards beruhte auf Voraussetzungen, erforderte gewisse Anstrengungen. Es konnte einem geschehen, dass man müde und erschöpft war, bevor man überhaupt an seinem Arbeitsplatz – in der Bibliothek, im Archiv, im Labor – angekommen war. Das bedeutet, dass die Bewältigung des Alltags, der so ungemein aufreibend und zermürbend war, den Grundtonus, den Rhythmus von allem bestimmte.
Im Vergleich dazu ist das Leben heute, jedenfalls in den großen Städten, rasend schnell geworden, so sehr, dass einem fast schwindelig werden könnte. Für einen jungen Menschen, der aus Berlin oder München kommt, der sich in Amsterdam oder New York aufgehalten hat, ist das alles nicht der Rede wert. Warum sollte man von der Herstellung von Normalität viel Aufhebens machen?
Es ist aber eben nicht nur eine Frage der persönlichen Erinnerung, irgendwelcher nostalgischer Gefühle, sondern es ist die Frage, was der Bezugspunkt für unsere Urteilsbildung ist. Für jemanden meiner Generation ist der Übergang vom Procedere im Zentralen Telegraphenamt an der Gorkistraße zum Mobiltelefon ein Epochensprung. Und ich würde sagen: Wer über diesen Epochensprung nicht reden will, soll vom Ende der Sowjetunion schweigen. Und die gedankliche und sprachliche Bewältigung dieses Epochensprungs ist der Kern des Problems, von dem ich hier spreche.
Was sich ereignet hat, ist in meiner Wahrnehmung noch immer eigentlich ganz unwahrscheinlich und unglaublich. Das Ende der Sowjetunion war eben nicht nur ein Dekorationswechsel, nicht nur das Ende von politischen Institutionen und administrativen Strukturen, sondern die Auflösung einer Lebensform. Kein Aspekt blieb davon unberührt, und jeder von uns hat sogleich Dutzende, ja Hunderte von Beispielen zur Hand, an denen sich die ganze Wucht der Auflösung, der Zerstörung und der Neubildung gezeigt hat.
Moskau, die sowjetischen Städte überhaupt waren grau, farblos, düster, wie mit einem Zauberstab verwandelten sie sich über Nacht in alle Farben eines orientalischen Basars. Für jemanden, der Moskau oder Leningrad in sowjetischen Zeiten nicht gesehen hat, ist es vielleicht nichts Besonderes, wiederum nicht der Rede wert, wenn die Prospekte und Fassaden heute leuchten und die Städte nachts illuminiert sind in einer Weise, die verrät, dass hier die Lichtkünstler aus Paris und Las Vegas am Werke waren, aber für uns, die in die Dunkelheit und Grauheit der sowjetischen Städte hinausgegangen sind, mutet es noch heute wie ein Wunder an. Farbwechsel ist nicht nur Farbwechsel. Wechsel der Farbe besagt etwas: Es gibt Subjekte, die sich präsentieren, die sich wichtig nehmen oder wichtig machen, es gibt einen Wettbewerb der Selbstunterscheidung und des Sich-Hervortuns. Wie ein Sturm fuhr der Sog der globalen brands durch das Land und erreichte selbst die letzte abgelegene Siedlung irgendwo draußen im Land: Man mag darüber lächeln, aber es besagt etwas, wenn in einem Land, das über Jahrzehnte und über Generationen hinweg abgeschlossen war, in dem die Zeichen- und Bildwelten hermetisch und homogen waren, plötzlich die Bilder der
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