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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Pleitgen, Dirk Sager, Klaus Bednarz, Gerd Ruge –, sie alle waren diesem Land in einer über die geschichtliche Tragödie vermittelten Weise nah. Russland war nicht »ein Land wie jedes andere« – das hat nichts mit einer Seelenverwandtschaft oder einer Eigentümlichkeit gar der »russischen Seele« zu tun, sondern mit der Grausamkeit der Begegnungen unserer Völker im vergangenen Jahrhundert. Die tiefe Sympathie, die jene prägte, die für das deutsche Russlandbild sehr entscheidend gewirkt haben, ist ein großes Kapital und darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Man wundert sich manchmal – besonders zur lauen und trauten Weihnachtszeit –, wie intensiv und gründlich die Bilder der russischen Welt in die deutschen Wohnzimmer gelangen: die sibirischen Flüsse, die Vulkane der Kamtschatka, die Tagebau-Städte in Mittelsibirien, die großen Ströme, die Klosteranlagen, die windschiefen Hütten und ramponierten Plattenbauten, die in den Permafrostboden gerammt sind. Ich will damit sagen, dass es einen großen und soliden Fundus von Russlandbildern gibt, jenseits der aktuellen und tagespolitischen Meldungen. Und das ist gut so. Sie besagen: Russland besteht nicht nur aus Katastrophen, Havarien, Streiks, Auftragsmorden, demographischem Niedergang. Es gibt ein Russland der großen Ströme, der unermesslichen Weite und der Anstrengung, über sie hinwegzukommen, sie zu bewältigen. Es gibt einen ganzen Kontinent, der in seiner eigenen Zeit agiert, einer Zeit, über die niemand gebietet und auf die kaum jemand Einfluss hat – schon gar nicht jemand, der von außen auf das Land blickt. Ich glaube nicht, dass es heute einen Russlandmystizismus gibt, eine Verklärung des Landes im Osten oder gar eine Ex-oriente-lux -Strömung, die es zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus gegeben hat. Und für mich ist eine solche sich an Russland oder Eurasien knüpfende Erlösungsideologie auch nicht in Sicht. Dafür gibt es eine zu gut informierte, hellwache und gegen Romantisierungen immune Berichterstattung – auch hierfür ließen sich für die deutschsprachige Presse Namen nennen, zum Beispiel Kerstin Holm, Sonja Zekri oder Markus Ackeret.
    Warum ist es dennoch so schwer, ein angemessenes Bild von diesem Land zu gewinnen? Woran messen wir es, was ist unser Vergleichspunkt? Vieles von dem, was für mich von epochaler Bedeutung ist, erscheint den jüngeren Zeitgenossen banal und nicht der Rede wert. Der stärkste Beleg dafür, dass sich vielleicht nicht alles, aber vieles geändert hat und dass sich doch so etwas wie »Entwicklung« abzeichnet, sind für mich die Veränderungen, die sich in meiner Lebenszeit und unter meinen Augen vollzogen haben. Wenn ich heute im Seminar oder in der Vorlesung über die Verhältnisse im Spätsozialismus der Breschnew-Zeit spreche, dann überfällt mich oft selbst der Verdacht, als spräche ich von einem längst vergangenen, fast vorgeschichtlichen Äon. Es ist den heute heranwachsenden jungen Leuten, die »danach« ihr bewusstes Leben begonnen haben, kaum zu vermitteln, wie das war, das »Leben davor«. Hier im Saale sind vermutlich doch noch einige, die sich an jene Zeiten erinnern. Es ist die Erinnerung an eine ungeheure Verlangsamung aller Bewegung, das Bewusstsein einer stillstehenden Zeit, von der man nicht sagen konnte, ob sie vorwärts- oder rückwärtsfloss, wie in einem aufgestauten Fluss. Es ist die Erinnerung an eine »bleierne Zeit«, in der die Verlangsamung fast als physischer Schmerz empfunden werden konnte. Eine Reise in die UdSSR – im weiteren Sinne: in den Ostblock – war eine Reise in eine andere Zeit. Wer sich dort aufhielt, fiel für eine Weile aus der Zeit heraus, war »weg«, unerreichbar. Das schuf eine andere Zeiterfahrung. Für die Kinder des Handy-Zeitalters ist das nur mit erheblicher Phantasie nachvollziehbar. Als Austauschwissenschaftler ein Telefonat nach Hause zu führen – das war eine große, zeit- und kraftraubende Operation, konnte vielleicht einen Nachmittag oder auch einen ganzen Tag kosten. Eine solche Prozedur setzte das gewohnte Zeitregime außer Kraft. Es machte keinen Sinn mehr, auf die Uhr zu sehen, wenn der ganze Tag draufgegangen war. Heute, vom Handy aus in Bruchteilen einer Sekunde wen auch immer erreichen zu können, die Aufhebung der Grenze und der Kontrolle über die Grenze – das ist so gesehen eine Ungeheuerlichkeit, von der sich nur jene eine Vorstellung machen können, die erlebt haben, dass es eine Zeit gab, in der dies

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