Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Marlboro-Welt auftauchen und über die Bildschirme die Ästhetik von MTV und das Design von Ermenegildo Zegna einsickern. Es wird künftige Kulturhistoriker beschäftigen, den elementaren und unwiderstehlichen Prozess der Zersetzung, des Zerfalls und der Neubildung der Formen zu rekonstruieren. Es ist ein Jammer, dass in der Wissenschaft – ob dies die Geschichte, die Soziologie oder die Literaturwissenschaft ist – oft die nachdrücklichsten Beweise, in denen irreversible Veränderungen sich ankündigen, am wenigsten beachtet werden.
Was war das alles, was uns, die stutzenden Besucher der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, so frappiert hat – mich jedenfalls. Wir kannten die Magistralen mit den großen Abständen zwischen den Plattenbauten oder den weit von der Straße zurückgesetzten Wohnhäusern; es schien immer eine besondere Anstrengung zu kosten, diese Distanzen zu überwinden, die Leere zu überwinden, besonders wenn die Zeit der razputje , der Wegelosigkeit im Frühling oder im Herbst, angebrochen war. Und dann war mit einem Mal, von einem Besuch zum nächsten, alles anders: Die düsteren Unterführungen und Metroeingänge wurden zu Passagen, in denen alles zu bekommen war, Billigschmuck, Säfte aller Art und aller Provenienzen, es duftete plötzlich nach frischem Brot oder es roch nach Parfums. Wo früher nur das Getrappel von Menschen auf dem Weg zur Arbeit zu vernehmen war, gab es plötzlich Lärm, Marktlärm, es leuchtete wie in den Gängen arabischer Suks. Die Welt des Warenmangels, des ewigen Schlangestehens und der feindseligen Abfertigung von Kunden schien mit einem Mal verschwunden. Alles schien es von nun an im Überfluss zu geben – wenn man nur genügend Geld hatte. Und oben auf der Straße angekommen, war die Weite und Endlosigkeit der Prospekte gezähmt und gemindert durch eine sich erst anarchisch ausbreitende, dann in geordnete Bahnen kommende Kiosk- und Basarlandschaft. Eine Urbanisierung des weitgehend vorurbanen Raumes. Die Welt der Zirkulation, der Distribution, des Warenverkehrs schien mit einem Mal die Bühne zu beherrschen, nicht mehr die der industriellen oder der Büroarbeit.
Hinter all diesen Erscheinungen stand eine unaufhaltsame, fast naturgeschichtliche Kraft. Veränderungen dieser Art – in denen sich ganze Stadtlandschaften ändern, in denen der gesellschaftliche Geschmack oder das Verhalten sich ändern, in denen schließlich die Beziehungen zwischen den Menschen andere werden – sind nicht oberflächlich, es sind keine Inszenierungen, sie sind in gewissem Sinne irreversibel. Es ist diese durch einen soziologisch geschulten Blick erfasste Wirklichkeit, die mich sagen lässt: Ja, es hat eine irreversible Umwälzung gegeben, und es ist nicht ein insgeheimer Glaube an eine Teleologie des Fortschritts. Hinter solchen Logifizierungen des historischen Prozesses verbirgt sich nicht zuletzt eine gehörige Portion Angst vor dem Unbekannten, Ungewissen, Erratischen. Sich an solchen Schemata festzuhalten sagt eher etwas über die Sicherheitsbedürfnisse der Betrachter als über die Geschichte, von der niemand wissen kann, wie und in welche Richtung sie sich bewegt. Mich interessiert mehr die Phänomenologie des Kräftemessens, jenes Feld, in dem sich leuchtende Farben mit dem schmutzigen Grau, das Pathos des Aufbruchs mit der Gewöhnlichkeit und Gemeinheit des Menschenlebens und des Durchkommen-Müssens unter allerhärtesten Bedingungen vermischen.
Für unsereins, die wir Buch- und Büchermenschen sind, ist natürlich die Szenerie der Buchläden, der Antiquariate, des Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes ein wichtiger Indikator für den Stand der Dinge. Nun, nach dem letzten Besuch, muss ich wieder gestehen: Die Fülle des in Dom Knigi, in Biblioglobus oder in der Anarcho-Buchhandlung »Falanster« im Maly Gnesdikowski pereulok ausliegenden Sortiments ist überwältigend. Man weiß zwar, dass es keinen Katalog gibt und dass man nie bekommt, was draußen im Lande, in Samara oder Nowosibirsk produziert wird, aber die Flut der Neuerscheinungen, der Themen ist doch unfassbar groß und breit. Es wird übersetzt, was das Zeug hält, genauer: was die meist ausländischen Fonds und Stiftungen subsidieren, die ganze geistige Welt ist präsent, auch jene, deren Namen uns nicht ohne Unbehagen über die Lippen kommen. Es gibt kaum einen westlichen Autor, der nicht zu haben ist; man fragt sich, wer all das Spezialistische lesen soll; die Abstände zwischen Ersterscheinen und Übersetzung
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