Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
zurück in die Speise- und Kinosäle, wo zur Ablenkung des aufgekommenen Unmutes so etwas wie psychotherapeutische Übungen veranstaltet wurden. Und als man endlich das Schiff verlassen konnte, regnete es in Strömen, eine aus Veteranen zusammengestellte Blaskapelle spielte unter Regenschirmen traurig-melancholische Weisen. Als die Passagiere die nun aufgefahrene Armada von nagelneuen Bussen bestiegen, verstanden sie nicht, warum sie für die Dauer des Tages zusammenbleiben mussten und sich nicht, wie sie das sonst gewohnt waren, frei in der Stadt bewegen durften: Das Visum galt nur für diesen Tag und nur gruppenweise. Für die meisten war dies unverständlich und fremd. So begann der Landgang in die Stadt, die ich in den Tagen zuvor mit allen Registern, die mir als Historiker der Stadt zur Verfügung standen, angepriesen hatte, mit einem Tiefschlag, mit einem tiefen Missklang, einer Enttäuschung. So hatte man sich die Ankunft in der legendären Stadt nicht vorgestellt. Als Passagier von Kreuzfahrtschiffen war man so etwas nicht gewöhnt. Wie ich bei meinem letzten Besuch in Petersburg erfuhr, wird dort mittlerweile zwar ein neues Terminal für Kreuzfahrtschiffe gebaut, aber die verrückte Regelung, dass es nur Gruppenvisa für den Landgang gibt, ist nach wie vor in Kraft.
Für mich, der ich Erwartungen geweckt hatte, stellte und stellt sich die Frage, ob ich denn selber angemessen vorbereitet war oder nicht falsche Hoffnungen genährt hatte. Als jemand, der sich aus beruflichen Gründen nun schon fast sein ganzes bewusstes Leben lang mit diesem Land beschäftigt, der gewöhnlich interessierten Besuchern einiges voraushat, schuldet man Erklärungen auf ganz einfache und normale Fragen: Warum soll man in ein Land reisen, das sich mit einem solchen bürokratischen Aufwand abschirmt, dass einem schon vor dem Antritt der Reise aller Appetit vergangen sein kann? Warum soll ich mich in einem Land bewegen, in dem man als Kunde nicht umworben, sondern fast als Belästigung behandelt wird? Warum soll man in ein Land reisen, in dem man nicht wirklich willkommen geheißen wird und viel Kraft verausgabt werden muss für die Überwindung von Hindernissen und Barrieren? Warum sollte man sich im Zeitalter des globalen Tourismus den bürokratischen Prozeduren der Grenzüberschreitung und Grenzabfertigung nach Russland unterwerfen? Warum muss man sich zum Objekt oder Spielball von Taxifahrern machen, denen offensichtlich nicht daran liegt, eine Dienstleistung zu absolvieren, sondern die aus der Hilflosigkeit eines im fremden Land ankommenden Reisenden Profit schlagen wollen? Warum soll man sich den groben Ton gefallen lassen, wo es doch Länder gibt, in denen man zuvorkommend und höflich behandelt wird, wo einem die Tür nicht vor der Nase zugeknallt, sondern aufgehalten wird? Warum sollten wir uns zur Geduld zwingen, etwas auszuhalten, und warum müssen wir etwas ertragen, wenn wir die Freiheit haben, in Länder zu reisen, in denen wir nichts hinnehmen, ertragen oder erdulden müssen?
Das alles hört sich kleinlich an, und Sie werden fragen, was das eigentlich in einem Vortrag vor Eingeweihten soll, noch dazu in einem sogenannten »Festvortrag«. Wir, die wir Russland, seine Sprache, seine Kultur, seine Geschichte studieren, das Land besuchen, Wissen vermitteln, unsere Mitbürger, vor allem aber die jüngere Generation interessieren und »mit auf die Reise nehmen« wollen, haben doch ein Problem. Natürlich lesen wir weiterhin russische Literatur, gehen in Ausstellungen mit den Werken der sowjetischen Avantgarde, sehen uns Schlöndorffs Tolstoi-Inszenierung an – aber das alles ist wenig gegen das andere Russland, das die Bühne beherrscht und zu dem wir unentwegt Rede und Antwort stehen müssen, ob wir wollen oder nicht. Sie alle kennen es. Es ist das Russland, das Villen an der Côte d’Azur und in Kensington und im Londoner Westend besitzt, das für seinen verwöhnten Nachwuchs französische und englische Gouvernanten beschäftigt, auf den Seiten von Hochglanzbroschüren und Architekturfachzeitschriften die Interieurs seiner Domizile auf der Rubljowka oder in Berlin-Grunewald ausstellt. Dieses Russland trägt Koffer mit Bargeld mit sich, kauft Grundstücke auf der ganzen Welt zusammen, fliegt in Privatjets nach Lugano, Davos oder Benidorm. In diesem Russland fallen Linienflugzeuge vom Himmel, kommt es zu Havarien an Staudämmen und Pipelines, in diesem Russland werden Journalisten und Anwälte auf offener Straße
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