Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
Vom Netzwerk:
molekularen Strömen, diesen, wie ich sie nenne, »Kriechströmen« zu folgen und ihre Langzeiteffekte zu studieren. Es ist wichtig zu sehen, dass Moskau zwar das wichtigste Tor zur Welt ist, aber lange schon nicht mehr das einzige, wie das vormals der Fall war. Heute kann man aus Saratow nach Istanbul und Thessaloniki, aus Jekaterinburg nach Tientsin und aus Petersburg nach Peking fliegen. Das Porös-Werden der Grenze, die Entprovinzialisierung des ganzen früher nur über Moskau zu erreichenden weiten Landes ist ein ungemein wichtiger Tatbestand.
    Es gibt viele Erklärungen, wie es gekommen ist, dass das alte Moskau – verdeckt von überdimensionalen Baugerüsten und Planen – in einem Wirbel aus Abriss und Neubau verschwunden und ein neues Moskau entstanden ist: in allen Farben leuchtend, bebend vor Kraft, dröhnend, dass einem fast Angst werden könnte, die Konzentration des Reichtums des ganzen alten und neuen Imperiums in der Hauptstadt, die monopolistische Stellung des Macht- und Finanzzentrums, Moskau als Stadt sowjetischer Rentiers mit allen Privilegien der alten und neuen Hauptstadt. Gewiss hat auch das Zusammenspiel der Kräfte, die verhindert haben, dass es zu einem Krieg aller gegen alle kam, obwohl das durchaus denkbar war – und wir haben die Bilder vom in Brand geschossenen Weißen Haus, aus dessen oberen Etagen Flammen und Rauch aufstiegen, durchaus noch vor Augen –, seinen Anteil an der mehr oder weniger friedlich vonstattengegangenen Transformation der Stadt. Wir alle wissen, dass Moskau ein Sonderfall ist, die größte europäische Stadt, eine Metropole mit an die 15 Millionen Einwohnern, dass der Planet Moskau auf einer anderen Umlaufbahn dahinschießt, das weite Land hinter sich lassend, das in vielem – infrastrukturell, wirtschaftlich – zurücksinkt und abgehängt wird. Man muss nur den Moskauer Speckgürtel von 50 bis 100 Kilometern hinter sich lassen – und in diesem hat sich der wahre Bauboom der letzten 20 Jahre abgespielt, wahrscheinlich noch eindrucksvoller als im neuen financial district von Moscow City –, um zu sehen, wie zerklüftet das Land ist und wie wenig weit wir mit Verallgemeinerungen und gemeinsamen Nennern kommen, wenn wir »Russland« fassen und beschreiben wollen.
    Es gibt Punkte, an denen man in eine tiefe Verzweiflung stürzen kann, weil man nicht sieht, wie das Land dort je wieder zu Kräften kommen könnte. Orte einer säkularen Auspowerung und Erschöpfung. Es reicht, am Sawjolowsker Bahnhof die Elektritschka zu nehmen und nach Norden zu fahren, zum Beispiel nach Kimry, in die alte Stadt am Oberlauf der Wolga, im späten Zarenreich das prosperierende Zentrum der Schuhindustrie. Man fährt am Moskwa-Wolga-Kanal entlang, auf dem der Frachtverkehr zum Erliegen gekommen ist; dafür kreuzt dort, wo einmal das Dmitrower Arbeits- und Besserungslager der Stalinzeit war, die Flotte des International Yachting Club of Moscow. Man kann im Kimry heute noch die Spuren des vergangenen Wohlstands und Reichtums sehen – vielleicht gibt es nirgendwo eine solche Kollektion wunderbarer Jugendstilhäuser und Villen aus Holz, jetzt aber in einem erschütternden Zustand. Nur zwei Stunden von Moskau entfernt, ein Juwel der russischen Moderne, aber so sehr heruntergekommen und verwüstet, dass einem die Worte fehlen. Auch 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetzeit, die für solche Perlen nichts übrig hatte – »Ausdruck bürgerlicher Dekadenz« –, stehen die Villen angekokelt von Brandstiftungen oder defekten elektrischen Leitungen, in den Parks hoch über der Wolga liegen Schnapsleichen auf den Gehwegen, und ab und zu kreuzt ein schwarzer Jeep mit Kühlergrill und abgedunkelten Scheiben.
    Und so hat wohl jeder, der durch das Land reist, seine Erlebnisse: begeisternde und solche, wo man alle Zuversicht und allen Mut fahrenlassen möchte, Szenen von altvertrauter Herzlichkeit und solche von einer Härte, auf die wir nicht gefasst sind und die uns verletzt wie die schwere Schwingtür am Metroeingang, die man einem mit großer Regelmäßigkeit ins Gesicht fallen lässt.
    Aber dann gibt es wieder ganz andere Bilder – etwa die vom »Tag der Stadt« in Moskau Mitte September. Die Stadt illuminiert, die Stalin-Hochhäuser wie die Hotels auf dem Strip in Las Vegas erleuchtet, die Straßen im Zentrum gesperrt und von Hunderttausenden von Leuten in Besitz genommen, die nichts wollen, als sich an der Stadt zu freuen und auf das Feuerwerk am Ende des Tages zu warten. Eine Jugend, wie man sie

Weitere Kostenlose Bücher