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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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haben sich radikal verkürzt, das heißt: die Zirkulationsgeschwindigkeit der Ideen hat sich beschleunigt. Es gibt vielleicht keine nationale Zeitung von Gewicht, dafür hat sich eine virtuelle Internet- und Blogosphäre gebildet, die weit größer ist als in den sonst fortgeschritteneren Ländern.
    Ein weiterer Gradmesser für den Wandel ist der Verkehr: der Stau als Kennzeichen des Fortschritts, der Verzicht auf das öffentliche Massenverkehrsmittel und der Rückzug in den Schutzraum des Automobils, auch um den Preis stundenlangen Zwangsaufenthalts. Auf den Magistralen und Prospekten, auf denen sich einst die Autos verloren, kommt Moskau, die Stadt der 3,4 Millionen Autos zum rasenden Stillstand. Die Stadt dröhnt, und gewiss ist einer der härtesten und unmenschlichsten Aspekte des Lebens in der großen Stadt Moskau der tosende, dröhnende Lärm der über die Ringe und Boulevards jagenden Autos, die noch immer nicht gelernt haben, schon aus Gründen der Selbsterhaltung zu einer defensiven Fahrweise überzugehen. Ich habe bei meinem letzten Moskaubesuch innerhalb von vier Tagen drei Tote auf offener Straße gesehen, zerschmettert und wie totgefahrenes Wild auf dem Asphalt. Der Verkehr, von dem man zunächst glauben konnte, es gehe eine Kraft der Selbstdisziplinierung von ihm aus, ist einer der sinnfälligsten und barbarischsten Aspekte für die Schutzlosigkeit von Menschen. Es gibt Aspekte, die man auch als schon jahrzehntelang mit der Stadt Vertrauter dennoch nicht fassen kann: Es sind die phantastischen Preise – ein gewöhnlicher Cappuccino für sechs Euro –, die Mieten, die pompejanischen Interieurs neu errichteter Villen, die mittlerweile für den öffentlichen Verkehr gesperrten Höfe und Durchfahrten, die von den massiven Burschen mit dem Knopf im Ohr kontrolliert werden, die nicht abreißende Kette schwarzer Limousinen, die man in solcher Häufung in westlichen Metropolen nirgends zu sehen bekommt. Man kann aber auch gleich wieder Gegenbelege für die Normalisierung und für die Annehmlichkeiten einer wiedergewonnenen oder neu errungenen Urbanität zitieren: die Straßencafés in Zamskworetschje, die Effizienz des Betriebs in einem von der Mittelklasse aufgesuchten Selbstbedienungsrestaurant, die Selbstverständlichkeit, mit der junge Leute sich in den Internetcafés eingerichtet haben.
    Ich lese auf den Flughäfen die Displays mit den Destinationen – in Domodedowo waren das zuletzt innerhalb von vier Stunden: Aschchabad, Erewan, Thessaloniki, Tivat – ein Ort, von dessen Existenz ich gar nicht wusste –, München, zweimal Teneriffa, Samarkand, Monastir, Varna, Dalaman, Simferopol, Tel Aviv, Bologna, Burgas, Frankfurt, Kishinew, mehrfach Antalya, Buchara, Zürich, Baku, Chicago, Scharm-el-Scheik, London, Wien, Kiew – also die Destinationen des untergegangenen Imperiums und die neue weite Welt, vor allem die Strände des Mittelmeers, am Roten Meer und am Atlantik.
    Es ist für jemanden, der die alten Ein- und Ausreiseprozeduren mitbekommen hat, ein beglückendes Erlebnis, schnell durch die Kontrollen geschleust zu werden, vielleicht vermischt mit einem Erstaunen über die manchmal nur symbolisch veranstalteten Gepäckkontrollen: Man bleibt unbehelligt von Durchsuchungen – es sei denn, man reist als Gastarbeiter mit einem Bündel aus Taschkent, Bischkek oder Aschchabad an.
    Russland ist weltläufig geworden, und es gibt inzwischen keinen Punkt der Erde, wo man nicht das russische Idiom zu hören bekommt – das kann an der ligurischen Küste, am Bodensee, auf der Fähre nach Trelleborg, in Montenegro oder in Paris sein. Russland reist – in großen Scharen, in allen Preisklassen, auf allen Wegen, eine Internationalisierung und Europäisierung im Massenmaßstab, wie es sie zuvor wohl nie gegeben hat – sieht man von den Hunderttausenden von Armeesoldaten ab, die auf ihre Weise die Welt draußen kennengelernt haben, ob nach 1812 oder nach 1944. Sich mit eigenen Augen umzusehen, sich durch fremde Länder zu bewegen, die aufhören ein Gerücht oder ein Fernsehbild zu sein – es gibt wohl kaum etwas Nachhaltigeres als einen derartigen Anschauungsunterricht. Ich bin überzeugt, dass das Tempo, in dem seit dem Fall des Eisernen Vorhangs bestimmte Erfahrungen und Praktiken Platz gegriffen haben, ohne dieses millionenfache Ausschwärmen nicht zu erklären ist.
    Auch hier ist ein Defizit zu melden: Es wäre eines der aufregendsten Themen für Ethnologen, Anthropologen, Soziologen gewesen, diesen

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