Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
nur, dass jenes Alltagswissen oder die Vorstellung, die auch in den Köpfen der Landesunkundigen sich verankert hatte, im Beschreiben und Schreiben von Russlands Geschichte nicht zum Tragen kam – von Ausnahmen abgesehen. Die Erfahrung der Weite und das Gefühl des Verlorenseins in der Weite des Landes werden von Schriftstellern und Dichtern artikuliert. Für die Bilder von der Unendlichkeit des Horizonts und der Erhabenheit der sibirischen Ströme sind Reporter, Filmemacher und Journalisten zuständig, die – und dafür gibt es gerade in Deutschland herausragende Beispiele – sich bemühen, in Bildern einzufangen, was eigentlich den Rahmen von Bildern sprengt. Weite ist aber auch das insgeheime Zentrum jener Sehnsucht vieler, die das so kleinräumige Europa hinter sich lassen wollen. Was ist dagegen die Bundesrepublik, die man im ICE in wenigen Stunden von einem Ende zum anderen durchqueren kann! Eine Reise nach Russland aus dieser vernetzten, klein gewordenen Welt war immer so etwas wie eine Reise ins Freie, Unverbaute, Grenzenlose, in dem eine Erfahrung zu machen war, die sonst nirgends mehr zu haben war – vom Abenteuer auf dem Highway 66 oder auf der Panamericana abgesehen.
Es muss etwas bedeuten, wenn diese eindrücklichste Erfahrung, die man mit der Sowjetunion oder Russland haben konnte, sich nicht oder lange jedenfalls nicht in der Geschichtsschreibung Russlands niedergeschlagen hat. Das hört sich wie eine Übertreibung, vielleicht sogar wie eine Denunziation an. Denn selbstverständlich beginnt fast jede Geschichte Russlands bzw. der Sowjetunion mit einem Kapitel über die naturräumlichen Bedingungen, über Geologie und Geographie, Bodenbeschaffenheit und Klimazonen, Vegetationsperioden, Landschaftscharaktere, die Fundstätten von Bodenschätzen und die Linien des Verkehrs. 2 Aber in den meisten Fällen fungiert die Darstellung der natur- und kulturräumlichen Verhältnisse lediglich als Eröffnung, als ein Rahmen, der in der Entfaltung des geschichtlichen Geschehens dann keine Rolle mehr spielt. Nur so lässt sich erklären, dass wir bis in die jüngste Zeit auf Studien warten mussten, in denen die Modernisierung des Russischen Reiches nicht nur als Bündel von politischen Maßnahmen, institutionellen Reformen und wirtschaftlicher Entwicklung ins Auge gefasst wird, sondern als Prozess der Beschleunigung und Verdichtung, des Ausbaus technischer und organisatorischer Infrastrukturen, die die Produktion jenes sozialen Raumes ermöglichten, in dem die Modernisierung der Reiches überhaupt nur erfolgreich sein konnte. Also: Kein modernes Russland um 1900 ohne Eisenbahn!
Oder: Die Literatur über den Kommunismus oder die Partei ist ins Unabsehbare gewachsen, die scholastischen Debatten und Fraktionismen sind bis in die letzten Verästelungen, die ihrerseits nicht uninteressant sein mögen, erforscht, ganze Bibliotheken sind geschrieben worden; aber bis in die jüngste Zeit hatten wir keine einzige – ja: keine einzige – Untersuchung zu dem zentralen Lebensort sowjetischer Menschen im 20. Jahrhundert, zur Kommunalka, zur Gemeinschaftswohnung, also jenem aus der Aufteilung einer größeren bürgerlichen Wohnung entstandenen sozialen Raum, in dem nun nicht mehr nur eine Familie wohnt, sondern wo in jedem Zimmer eine und oft drei Generationen zusammenleben, wo eine Einfamilienwohnung nun für 20 oder 40 Menschen herhalten muss, die zudem aus den verschiedensten Ecken des weiten Landes und aus ganz unterschiedlichen Milieus zusammengewürfelt sind und zwangsweise zusammenleben müssen – aber nicht provisorisch und für eine Übergangszeit von sagen wir ein paar Monaten, sondern unabsehbar, ein ganzes Leben lang, vielleicht auch für mehrere Generationen. Was bedeuten die Abwesenheit von privater Sphäre, der Zwang zum kollektiven Zusammenleben? Das Fehlen von Forschungen zum privaten Raum von Sowjetmenschen – dies hier nur als Beispiel – lässt sich nicht durch einen Mangel an Quellen erklären, sondern hat etwas mit Blickeinstellung, Perspektivbildung zu tun, mit der Frage also, ob die Lebenswelt, der Schauplatz des sozialen Lebens auf dem »Radarschirm« von Historikern präsent ist oder nicht, ob er für »relevant« gehalten wird oder nicht. Wir haben darüber mehr erfahren in den Autobiographien von Nadeschda Mandelstam oder in den Essays von Joseph Brodsky. 3
Oder noch ein Beispiel: Was immer wir über die Überlebensbedingungen in den Stalinschen Lagern lesen – bei Solschenizyn oder in
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