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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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zentralistisch integrierten Wirtschaftsraums, neue Grenzziehung, ein ideologisch-moralischer Kollaps, oder kürzer: die Auflösung eines Lebenszusammenhangs und Lebenshorizonts, in dem Abermillionen von Menschen, oft über Generationen hinweg, zusammengelebt hatten. Die Auflösung von Imperien zieht neue Grenz- und Demarkationslinien, schafft neue Nachbarschaften und neue Feindschaften, verschiebt die Relation von Zentrum und Peripherie, sie geht mitten durch Landschaften, Familien und die Köpfe von Menschen. Die Landkarten werden neu gezeichnet, erst die der wirklichen Grenzverläufe, dann auch die mental maps .
    In solchen Zeiten der Auflösung alter Zustände und Zusammenhänge entstehen Territorien, von denen nicht klar ist, wohin sie gehören: contested areas . Sie können zu Bruchlinien, ja Fronten werden. Der Zerfall von Lebensräumen und Lebenshorizonten, gleichsam über Nacht, ist ein zutiefst verstörender, verunsichernder, desorientierender, an das Selbstgefühl der Betroffenen rührender Vorgang. Es wäre gut, wenn die mit der Analyse dieser Situation Beschäftigten etwas von dieser Verstörung, existentiellen Verunsicherung, Ratlosigkeit sich zu eigen machen würden; sie würden dann nicht nur verstehen, wie überwältigend die Sehnsucht nach einem festen Halt im allgemeinen Chaos ist, sondern sich auch jenen Fragen stellen, die sich ihnen lange nicht gestellt haben. Zu diesen Fragen, die neu und verschärft und unter den denkbar dramatischsten Umständen gestellt werden, gehört ebenjene nach der Kohäsion des alten sowjetischen Raumes, die Frage, wodurch dieser Raum abgelöst werden wird oder ob man von Kräften und Traditionen sprechen kann, die, weit in die vorsowjetische Zeit zurückreichend, auch das Ende der Sowjetunion überdauern werden. Oder noch enger und genauer: ob Russlands Geschicke bestimmt sind durch seine durch die Natur vorgegebene Lage. Damit kehren wir in gewissem Sinne zurück zu Pjotr Tschaadajews bekanntem Satz, der am Anfang russischer Selbstvergewisserung über den Platz Russlands in der Geschichte und in der Welt steht. Pjotr Tschaadajew hatte – ebenfalls in einer Situation der Verunsicherung und Selbstvergewisserung, ausgelöst durch Napoleons Feldzug, durch die Begegnung der russischen Elite mit dem westlichen Europa, die gescheiterte Revolte der Dekabristen und die ungelösten Probleme im Inneren – 1837 formuliert: »Es gibt ein Faktum, das unseren Gang durch Jahrhunderte hindurch beherrscht, unsere ganze Geschichte durchzieht, in gewissem Sinne ihre ganze Philosophie in sich enthält, in allen Epochen unseres sozialen Lebens sich zeigt und ihren Charakter bestimmt; ein Faktum, das gleichzeitig das Wesenselement unserer politischen Größe und die wahre Ursache unserer geistigen Ohnmacht ist: das geographische Faktum …« 5
    Das Thema des russischen Raumes ist auf eine unerwartete Weise wieder auf die Tagesordnung gesetzt worden. In diesem Diskurs geht es, wie bei derartigen Diskussionen um Territorial- und Abgrenzungsfragen, aber auch – und vielleicht primär – um, wie man so sagt: Identitätsfragen, um Fragen der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit, um die Begründung eines spezifischen russischen Weges in der Welt, letztlich auch um das Bild von einem zukünftigen Russland, das in der Gestalt der Russländischen Föderation der Haupterbe, wenn nicht Fortsetzer des Imperiums in seiner geschrumpften Form ist. Kurz: Es geht nicht um eine antiquarische Fragestellung in einer antiquarischen Geschichte, sondern um eine existentielle Selbstvergewisserung – die entsprechend anfällig ist für Dramatisierungen, Ideologisierungen und alle Arten von neuer Mythenbildung.
    Der sinnfälligste Hinweis auf die Re-Aktualisierung des »geographischen Faktums« ist der Boom von Geopolitik und Geokultur. Unüberschaubar groß ist die Zahl der in den Moskauer Buchläden ausliegenden Titel zu geokulturellen und geopolitischen Fragen, darunter auch Lehrbücher für Kulturologie für Schulen und Universitäten. Die Kulturologie ist in vielerlei Hinsicht nur das neue Gewand für das, was einmal im marxistisch-leninistischen Weltanschauungsunterricht vermittelt wurde. Die Texte von Geographen, lange nur Sache eines kleinen Kreises von Spezialisten, erreichen jetzt ein größeres Publikum. 6 Klassische Arbeiten wie Fernand Braudels Mittelmeerbuch sind endlich übersetzt. Konferenzen und Sonderhefte zum Thema Raum werden organisiert. Die Texte der Eurasier, jener Gruppe von

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