Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
angewiesen ist. Vielleicht zeigt sich erst jetzt, was die Gleichschaltung der Presse, die Verwandlung des Fernsehens in eine konformistische Welt aus Reklame, soap operas , Softpornos, pseudopatriotischer Retrokultur zur Lähmung gesellschaftlicher Wachheit und Bürgersinns, ohne die das Land einen Ausweg aus der Krise nicht finden kann, beigetragen hat.
Eine Macht, wenn sie am Ende ihres Lateins ist, hat noch immer eine Karte in der Hand. Es ist der Feind; je unbestimmter er ist, umso besser: der Feind draußen, der das Land einkreist, der sich den Zerfall der UdSSR zunutze macht und Russland am Boden sehen möchte, der Feind, der seine Verbündeten im Lande hat, die er finanziert und steuert – in Gestalt von Agenten und fünften Kolonnen. Der Feind hat viele Gesichter: Er kommt als Gastarbeiter, als ausländischer Geschäftsmann, als Stiftung, als böswilliger Krimineller, als »Fremder«, vital, reproduktionsstark und demographisch auf dem bedrohlich aufsteigenden Ast. Es ist ein Paradox, dass in einem Augenblick, da jährlich Hunderttausende ins Ausland reisen – weil es dort etwas zu sehen gibt und weil es in Antalya und Berlin billiger und preiswerter ist als in Sotschi oder Moskau –, die Vorstellung, dass Russland vom Ausland, von Fremden bedroht sei, zunimmt, und keineswegs nur in eng-nationalistischen Zirkeln. Gerade in Krisenzeiten ist jemand, der verantwortlich oder schuld sein soll an allem, besonders gefragt. Die postimperiale Kränkung wird zum Spielmaterial für eine politische Macht, die anstatt sich um ihre eigenen Schwächen zu kümmern, die Schwächen bei anderen suchen muss. Die Kultivierung der Kränkung anstelle einer »Kultur der Niederlage«, wie Wolfgang Schivelbusch an geschichtlichen Beispielen gezeigt hat. Eine Kultur des Ressentiments, das sich jederzeit mobilisieren lässt, wenn sich andere Ressourcen des gesellschaftlichen Zusammenhalts verschlissen haben.
Wir sollten genau hinhören, um herauszuhören, woher die Empfindlichkeiten stammen und wo sie berechtigt sind: Ganz gewiss war es – bezogen etwa auf die jüngste Debatte um den Kriegsbeginn – so, dass man hierzulande mehr über den Molotow-Ribbentrop-Vertrag diskutiert hat als über die Schmach von München 1938; das ist nicht neu, auch die Landung in Omaha Beach wurde zum Jahrestag mehr gefeiert als der Jahrestag der Schlacht von Stalingrad. Die Asymmetrie der geschichtlichen Erfahrung und der Erinnerung, eine der Langzeitfolgen der Teilung der Welt im Kalten Krieg, wird uns noch lange begleiten.
So wahr dies ist, so wahr ist aber auch, dass man mit einem Kult der Selbstbemitleidung und des Selbstmitleids auf Dauer keinen Staat und keine Modernisierung machen kann. Es ist das große souveräne Land allein, das sich selber helfen kann. Man kann Ratschläge von außen geben, Rezepte liefern können wir, die Sympathisanten und Zaungäste, denen die Geschicke Russlands nahegehen, nicht. Wir wären weniger ratlos, wenn es im Lande selber eine entfaltete und offene Auseinandersetzung über das Woher und Wohin gäbe und wenn sich eine Sprache entwickelte, die der ungemein komplizierten Wirklichkeit angemessen wäre. Es gibt kein Zurück, es gibt keinen Rückfall in den Kalten Krieg, wie manchmal vermutet wird. Die Welt ist eine andere geworden, sie ist neu, in ihren Formen rätselhaft, oft unheimlich. Diese Welt, in der sich Plutonium-Spuren vermischen mit der Eröffnung von neuen Fluglinien in die neue weite Welt, die Bodyguards mit den Knöpfen im Ohr sich in Luxusboutiquen ihre behaarten Pranken maniküren lassen, wo sich eine neue Weltläufigkeit mit fast archaischer Fremdenangst vermischt, wo die Lichter in den 24-Stunden-Supermärkten nie erlöschen, die neuen Reichen in den alten Zarenpalais ihre Feste feiern, Nickel-Milliardäre amerikanische Basketballteams kaufen, über dem Kreml von Kasan eine Moschee von den Dimensionen der Hagia Sophia in grünem Licht erstrahlt, wo Städte, die bislang Arbeits- und Lebensmittelpunkt für Tausende waren, veröden und von der Natur zurückerobert werden, am 1. September die Mädchen mit weißen Schleifen im Haar und die Knaben mit rotem Halstuch in die Schulen gehen und Verrückte in Maseratis sich auf dem Moskauer Gartenring Duelle liefern – wo hat es je so etwas gegeben: beispielloser Reichtum, über Nacht konzentriert; eine Machtspitze, rekrutiert aus dem Innersten des arcanum imperii ; Schamlosigkeit der Ausplünderung, und wo dennoch ein stiller Heroismus am Werke ist: die
Weitere Kostenlose Bücher