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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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russischen Historikern, Sprach- und Literaturwissenschaftlern, Geographen, die im Exil in Sofia, Prag, Berlin, Paris zu der Überzeugung gekommen waren, dass Russland der Kern einer ganz eigenen, eben der eurasischen Welt sei, die weder dem Westen noch dem Osten angehöre, und die, obgleich in schärfstem Gegensatz zum Bolschewismus in der russischen Revolution den Durchbruch zum eigenen Weg und zur Erneuerung des Imperiums sahen. Die Texte von Prinz Nikolai Trubezkoi, Georgi Florowski, Petr Sawizki und Petr Suwtschinski – auch Roman Jakobson kann man dazuzählen – werden heute neu ediert. Klassische Texte der Geopolitik werden neu aufgelegt oder übersetzt und in gar nicht so geringen Auflagen verbreitet: darunter Autoren wie Sir Halford Mackinder, der 1904 mit seiner Theorie vom »pivot of history« (Drehzapfen der Geschichte) und vom »Heartland Eurasia«, das er in Zentralasien lokalisierte, bekannt geworden war; in Sammelbänden findet man auch Karl Haushofer, den Geopolitiker, den manche für »the man behind Hitler« hielten, oder Carl Schmitt und dessen Großraumtheorie. Eine besondere Rolle – und besonders lautstark vorgetragen – spielen die sogenannten »Neo-Eurasier«, die im Anschluss an die »Eurasier«, eine Gruppe von Gelehrten und Intellektuellen in der Emigration der 1920er Jahre, ihr Programm vom besonderen – Dritten Weg – Russlands zwischen Europa und Asien vorbringen und dabei vor einer Mischung aus militantem Antiliberalismus, Antiamerikanismus und Antisemitismus nicht zurückschrecken. Dies zeigte sich schon bei Nikolai Gumiljow, dem Sohn Anna Achmatowas, der als langjähriger Lagerhäftling und dann als Zentral- und Kultfigur der sowjetischen Dissidentenszene die Kontinuität zu den alten Eurasiern hergestellt und deren Thesen auf abenteuerliche Weise »weiterentwickelt« hatte. Es ist nützlich, sich diese Wortmeldungen anzuhören, weil in der Schärfe und im Ton deutlich wird, dass es um mehr als nur eine akademische Frage geht. Freilich gibt es eine Vielzahl von Abstufungen zwischen Konservativen, Nationalpatrioten, Neostalinisten, Faschisten, Radikal-Eurasisten, die hier nicht analysiert werden können – das hat Stefan Wiederkehr in seiner ausgezeichneten Studie getan –, aber selbst für einen Neokonservativen wie den verstorbenen Alexander S. Panarin, der für Gewaltverzicht und gegen die Verharmlosung des Rechtsextremismus auftrat, ist klar, dass – wie er 1994 konstatierte – das postsowjetische Russland eine »geistige Wende vom Maßstab … der Reformation oder der Aufklärung in Europa« benötigt, um die »Demoralisierung der Massen … von Familie bis Armee zu überwinden«; er forderte einen neuen »großen Text«, die »Vereinigung der nationalen Kulturen und Ethnien in einer ›neuen historischen Gemeinschaft‹ auf dem Wege der Bewusstmachung der supranationalen Prioritäten der eurasischen Ganzheit«. 7
    Weitaus schärfer formuliert der rechtsextremistische und eurasistische Schriftsteller Alexander Prochanow im Februar 1993: »Eurasien ist … die Ursuppe, aus der jedes Mal von neuem, mit neuen Konturen der Kontinent als großer Staat wiederersteht.« Alexander Dugin, Vordenker der Neo-Eurasier, der eine erstaunliche Literaturkenntnis, Hitler-Verehrung und Obskurantismus zusammenbringt, gibt eine Deutung für den Boom geopolitischer und eurasistischer Strömungen, wenn er in seinem Manifest der eurasischen Bewegung im Jahre 2001 schreibt: »Nach dem Kollaps der marxistischen Ideologie und dem Sieg des Westens im ›Kalten Krieg‹ … kam als Ablösung des Marxismus keine schlüssige und stabile Ideologie, die fähig war mit dem Liberalismus (der heute von den USA verkörpert wird) zu konkurrieren … In diesem Moment wandten sich die wissbegierigsten Geister, die reinsten Herzen und die glühendsten Seelen dem Erbe der Eurasier zu. Und sie entdeckten darin die Heilsquelle einer vollwertigen Ideologie, die den Erfordernissen des aktuellen historischen Moments in idealer Weise entsprach … Der Neoeurasismus begann sich als soziale, philosophische, wissenschaftliche, geopolitische und kulturelle Strömung Ende der achtziger Jahre zu formieren. Er ging vom Erbe der russischen Eurasier der zwanziger und dreißiger Jahre aus, nahm die geistige Erfahrung der altgläubigen Tradition der russischen Orthodoxie in sich auf, bereicherte sich an der Sozialkritik der russischen Populisten ( narodniki ) und Sozialisten, begriff die Errungenschaften der sowjetischen Etappe

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