Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
Archivare und Bibliothekare, die ihre Arbeit tun, obwohl sie vom Lohn nicht überleben können; die Lehrerinnen und Ärztinnen, die ausharren, obwohl sie ein Vielfaches verdienen würden, wenn sie das Land verlassen hätten. Man muss, wenn man nicht den Verstand verlieren will, Platz für verschiedene Tempi im Kopf haben. Wer auf der Höhe der Zeit bleiben will, muss sich auch analytisch und intellektuell auf die riskantesten Unternehmungen einlassen.
Die Ratlosigkeit, die am Ende einer schönen Epoche aufkommt, hat ja längst uns selbst erreicht. Ein langer Weg von 1989 bis 2009, vom Kollaps der sowjetischen Welt bis zum Crash der Weltökonomie, vom Zusammenbruch der sozialistischen Utopie bis zum Platzen der Spekulationsblasen – wir finden uns wieder in einer Welt, in der sich die alten Rezepte erschöpft haben. Die Desillusionierung, also der Verlust von Illusionen, ist nichts anderes als eine Form der Selbstaufklärung, also ein Gewinn. Wir sind nicht auf verlorenem Posten, wir leben nur in ungemein aufregenden Zeiten.
(2009)
»Russischer Raum« Raumbewältigung und Raumproduktion als Problem einer Geschichtsschreibung Russlands
Es ist eine uralte Frage, seit Menschen über sich selber und ihre Geschichte nachdenken, in welcher Weise alles, was sie tun, bestimmt, vielleicht sogar abhängig ist von der ihnen vorgegebenen Natur. Aber es gibt Zeiten, in denen diese Frage in den Hintergrund rückt, ja verschwindet, um dann plötzlich wieder aufzutauchen. Wie über Nacht. So ist es auch jetzt. Solange es die Sowjetunion gab, sprachen wir vom »System«, und es war ziemlich klar, was damit gemeint war: Es handelte sich um eine politische Ordnung, alljährlich präsent auf den Fernsehschirmen, wenn am 1. und 9. Mai oder am 7. November die Panzerkolonnen und Langstreckenraketen über den Roten Platz rollten. Es war repräsentiert von einer Riege älterer Herren, die in grauen Anzügen und mit Hut auf der Balustrade des Lenin-Mausoleums die Parade abnahmen. Die UdSSR hatte sich uns eingeprägt als Kartenbild mit einem klar umrissenen, meist roteingefärbten Territorium – »ein Sechstel der Erde« –, aber die wenigsten von uns hatten es je aus eigener Anschauung kennengelernt oder auch nur kennenzulernen gewünscht. Zu groß war die Distanz, zu hinderlich all der bürokratische Aufwand, der zu treiben war, wenn man sich »dorthin« auf den Weg machen wollte. Und wenn es so weit war, dann ging die Reise in der Regel zu den nächstliegenden Punkten auf der Karte der UdSSR , zu den Sehenswürdigkeiten im europäischen Teil, in Moskau, Leningrad, Kiew, vielleicht noch mit einem Abstecher auf die Krim oder in den Kaukasus. Einen Lebenstraum hatten sich freilich jene erfüllt, die mit der Transsibirischen Eisenbahn den ganzen Kontinent durchmessen hatten – von Moskau bis zum Pazifik. Aber dazu brauchte man vor allem Zeit, und wer hatte die schon, von Studenten oder wohlhabenden Leuten im Ruhestand abgesehen. Es gab so etwas wie ein Raumbild, das seine festen Koordinaten, seine Highlights, seine Gewissheiten hatte. Dazu gehörte auch die Vorstellung von der Unermesslichkeit und Weite des Landes, von seiner Größe, nicht zu vergessen das Klima, das einem mit seinen extremen Minustemperaturen ohnehin unheimlich war. Ryszard Kapuściński, der große polnische Reporter und Schriftsteller, hat es so gefasst – und er sei hier für viele, viele andere zitiert: »Dieselbe Ebene wie gestern. Wie vorgestern (und vorschnell wollte ich schon hinzufügen: wie vor einem Jahr, wie vor Jahrhunderten) … In den riesigen, einförmigen Weiten verlieren sich alle Zeitmaße, haben keine Gültigkeit, keine Bedeutung mehr. Die Stunden werden unförmig, formlos, zerdehnt wie die Uhren auf den Bildern Salvador Dalis … Was kann man auf einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn von der Wirklichkeit des Landes sehen? Eigentlich nichts. Die meiste Zeit ist die Trasse im Finstern verborgen, doch auch am Tag sieht man nicht viel mehr als eine verschneite, unendliche Wüste. Irgendwelche kleine Stationen, des Nachts einsame, fahle Lichter – Gespenster, die den durch Schneewolken jagenden Zug anstarren, der gleich wieder verschwindet, untertaucht, vom nächsten Wald verschluckt wird … Woran denkt ein Russe am Ufer des Jenissej oder in der Tiefe der Tajga entlang des Amur? Jeder Weg, den er einschlägt, scheint endlos zu sein. Er kann ihm Tage und Monate folgen, und immer wird um ihn herum Russland sein.« 1
Das Merkwürdige daran ist
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