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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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Schalamows »Erzählungen aus Kolyma« –, sagt uns etwas über Temperaturen, und wir können eigentlich gar nicht verstehen, wie man bei minus 40 Grad, Schwerarbeit verrichtend, ohne die Kleidung wechseln zu können und ohne richtige Ernährung, auch nur eine Woche überleben kann. Aber in der Geschichte des Stalinismus gibt es keine Abhandlung über Kälte. Wie können wir, die Nachgeborenen, aber eine Vorstellung von Stalinismus gewinnen, wenn wir keine Vorstellung von Kälte haben? Kälte kommt aber nicht vor.
    Dies sind nur drei Beispiele für das, was ich vor Augen habe, wenn ich von der Abwesenheit der räumlichen Dimension in der Russlandgeschichtsschreibung spreche und wenn ich mich dafür starkmachen möchte, dass sich das ändert. Dazu möchte ich ein paar Beobachtungen und Reflexionen beisteuern, in durchaus systematischer Absicht.
    Ich werde zunächst deutlich machen, dass die Zurkenntnisnahme oder auch Wiederkehr des Räumlichen im Geschichtsdenken nicht meine persönliche, individuelle Marotte ist, sondern nur etwas aufnimmt, verstärkt, was im Gange ist. Ich möchte dann skizzieren, dass es immer eine starke Ausprägung des Räumlichen in der vorsowjetischen Russlandgeschichtsschreibung gegeben hat, die in vieler Hinsicht auch heute noch oder wieder inspirierend sein kann. In einem weiteren Schritt möchte ich andeuten, was eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert bringen könnte, wenn darin dem Schauplatz, dem Ort, dem Raum die ihnen zukommende Bedeutung zuerkannt würde, um schließlich etwas über die Transformation des russischen Raumes, die unter unseren Augen vor sich geht, zu sagen. Ich hoffe, dass am Ende klar werden wird, worin der Mehrwert einer für das Räumliche sensiblen Russlandgeschichtsschreibung bestehen könnte.
    Von der Literatur, die in den letzten Jahren zum Thema erschienen ist und die ich wahrscheinlich nicht vollständig übersehe oder gar beherrsche, möchte ich insbesondere hervorheben die große russische Kulturgeschichte von Felix Philipp Ingold, für die das Raumthema konstitutiv ist; dann aber auch die Arbeiten von Emma Widdis über die Produktion von Raumbildern im Stalinismus, Roland Cvetkovskis Studie über Modernisierung als Beschleunigung, Mark Bassins Studien über imperiale Raumkonstruktionen und Fritjof Schenks Arbeit zur Entfaltung des imperialen Raumes im und durch den Eisenbahnbau. Ich selbst habe in dem Buch »Im Raume lesen wir die Zeit« vor einigen Jahren den Umriss einer »Hermeneutik des russischen Raumes« skizziert. 4
Die Wiederkehr des Raumes im postsowjetischen Russland
    Es gibt keinen gründlicheren Anschauungsunterricht als die Geschichte selbst. Historiker, die sich von Berufs wegen mit der Erforschung der Vergangenheit befassen, kommen manchmal in die Lage des Augen- und Ohrenzeugen. Sie hören dann für einen Moment auf, nur Historiker zu sein, und sind, was sie immer schon sind – Zeitgenossen, aber mit Bewusstsein. Zeitgenossenschaft ist ein zweifelhaftes Privileg, denn für die einen ist es Teilhabe am kairós , für andere vielleicht ein großes Unglück. Der Untergang eines Imperiums ist ein Anschauungsunterricht sui generis, wie er nur einmal in Jahrhunderten vorkommt. Alles, fast alles ändert sich.
    Ein solches Ende war die Auflösung der Sowjetunion und des Ostblocks. Und dieses Ende wurde zu einem Lehrstück für die Auflösung eines Raumes, der sich über Jahrzehnte, ja Jahrhunderte aufgebaut hatte und an dessen Stelle nun etwas trat, was seither – etwas ratlos – »postsowjetischer Raum« genannt wird. Wladimir Putin hat im Jahre 2004 die Auflösung der Sowjetunion im Jahre 1991 als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Auch wenn man diesen Superlativ nicht übernimmt, auch wenn aus einem anderen Blickwinkel das Ende der UdSSR das Ende von Herrschaft, Unterwerfung, Unfreiheit war, so bleibt doch, dass es sich um weit mehr als nur eine politische Reform oder einen »Systemwechsel« gehandelt hat – um einen solchen vielleicht sogar am wenigsten. Aber dass es sich um eine radikale Transformation fast aller Aspekte der bis dahin sowjetischen Lebenswelt gehandelt hat, kann nicht bezweifelt werden. Das Ende der Sowjetunion – das war: Ende eines Staatsgebildes und einer Herrschaft, Auflösung eines einheitlichen staatlichen Territoriums, Verwandlung von Millionen von sowjetischen Staatsbürgern in Minderheitengruppen und Menschen zweiter Klasse jenseits der Grenzen, das war Zerfall eines

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