Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
wirtschaftlichen Wachstums, der üppig sprudelnden Einnahmen aus Öl- und Gasexporten, eine um sich greifende Woge des Wohlstands, ohne dass die wirklich großen Modernisierungs- und fälligen Infrastrukturmaßnahmen angegangen worden wären. Straßen und Autobahnringe werden um die Städte gelegt, der Automarkt und Autoverkehr explodiert, Supermärkte, Malls, Einkaufszentren, Hypermärkte im amerikanischen Stil wachsen an den Ausfallstraßen der großen Städte, die Flughäfen machen sich fit für die Reise der Ex-Sowjetmenschen in die große weite Welt. Das Land hat den Kommunismus längst hinter sich gelassen und ist aus dem Stand, übergangslos, im allerletzten Stadium des Konsumismus gelandet. Im Umland der Städte ist ein flächendeckender Bauboom ausgebrochen, aber die Städte des Nordens, die nun nicht mehr mit staatlichen Subsidien am Leben gehalten werden, sterben ab und werden fluchtartig geräumt. Große Wanderungsbewegungen haben eingesetzt: aus den selbständig gewordenen Republiken ins Mutterland, von Arbeitskräften aus der zentralasiatischen oder kaukasischen Peripherie, die nun die Arbeit verrichten, die bisher Russen gemacht haben. Die großen Städte saugen sich in den Jahren des Baubooms voll mit Arbeitsmigranten, Gastarbeitern, überall entstehen Städte im Abseits: aus Containern, Wohnheimen und Billigunterkünften. Auf den Flughäfen kann man – an den Schaltern nach Taschkent, Bischkek, Duschanbe, Jerewan, Baku, Kishinew – die Pendelbewegung im postimperialen Raum studieren.
Russland, das große, unermesslich große Land, ist das Land der Ungleichzeitigkeit, des Nebeneinanders: Zusammenbrüche stehen neben Boomstädten, die Flucht aus den Städten des Nordens neben fieberhaften Neubildungen an unerwarteter Stelle. Die Züge verkehren noch wie in alten Zeiten auf den grenzüberschreitenden Trassen des Imperiums, und doch ticken die selbständig gewordenen Städte schon ganz anders, in ihrem je eigenen Rhythmus, so als sei dies nie anders gewesen. Fast jede Stadt hat ihre eigene Zone aus Luxus, Bars und Restaurants für die Eingeweihten und ihre vor sich hin verfallenden Zonen, in denen das Leben mühevoller denn je geworden ist.
Ich habe mich immer gewundert, wie das große Land die Auflösung ausgehalten und bewältigt hat, dass es – sieht man von der Kriegszone im Nordkaukasus ab – im Großen und Ganzen ruhig geblieben ist. Dies ist gewiss nicht in erster Linie dem Krisenmanagement der politischen Führung zu verdanken, die sich wesentlich um sich selbst gekümmert hat. »Das Volk« musste allein zurechtkommen. Es hat sich, als die Versorgung zusammenbrach, auf die Selbstversorgung zurückgezogen – wie so oft schon. Es hat sich im Augenblick der Entwertung allen Geldes in den Naturaltausch zurückgezogen, hat die Datschen zur Basis der Reproduktion und Reservebildung gemacht und ist so irgendwie über die Runden gekommen. Hunderttausende haben sich in jenen Jahren auf den Weg gemacht, traten aus ihren Berufen und Qualifikationen heraus und wurden Shoppingtouristen auf den Routen nach Istanbul, Palermo, Trabzon, Saloniki, Tientsin, Urumtschi. Es waren diese millionenfachen individuellen Krisenbewältigungsprogramme, dieses In-Aktion-Treten, die Eigeninitiative von unten, die das Land vor dem Schlimmsten bewahrt, es chaosresistent und krisenfest gemacht haben, während die Welle der Aneignung der Reichtümer des Landes über die Köpfe der Menschen hinwegging und das oligarchische Russland und das Russland der Gewalt- und Überwachungsagenturen sich festsetzte und dem Land seinen Geschmack, seinen Rhythmus und seine Sprachregelung aufzuprägen versuchte.
Es war ein Glück für das Land, dass es in den Genuss der steigenden Naturrente – aus den Öl- und Gaseinnahmen – kam, aber es war auch ein Unglück, weil dies den Druck einer unvermeidlichen Modernisierung vom Land nahm. Nun, da die weltweite Krise auch Russland erfasst hat, ist – wie überall – die Stunde der Wahrheit gekommen. Wie überall wird sich jetzt zeigen, wie krisentüchtig und bewältigungsstark das Land ist.
Vielleicht zeigt sich erst jetzt, wie hoch der Preis für die Fesselung der unternehmerischen, zivilen, energischen Kräfte in den letzten zehn Jahren gewesen ist. Vielleicht zeigt sich erst jetzt, dass die autoritäre Vorstellung, das große Land über eine Machtvertikale von oben nach unten zu steuern, hilflos ist gegenüber einem Land, das auf sich selbst tragende Regionen mehr als alle anderen
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