Grenzwärts
auch ich bin am Ende meiner Kräfte. Mein linker Arm schmerzt höllisch, und der Ärmel meiner Bomberjacke hat sich innen mit Blut vollgesogen. Doch ich kann nicht schon wieder schlappmachen, wir müssen weiter, wenn wir noch in der Dunkelheit den Fluss erreichen wollen. Die ersten Vögel erwachen, überall fangen sie an zu zwitschern und zu singen. Wir werden vom anbrechenden Tag von Osten her regelrecht verfolgt, und als wir endlich die bewaldeten Höhenzüge vor dem Neißetal sehen, steht bereits eine dunkelrote Sonnenscheibe über dem diesigen Horizont und steigt unaufhaltsam höher.
Kraftlos sinke ich am Waldrand nieder. Erst mal eine Zigarette. Ist jetzt auch egal.
Jule und Jelena, das doppelte Jottchen, wie ich sie insgeheim nenne, fallen neben mir keuchend ins Moos. Wir sind total fertig und kaputt.
»Nur eine Zigarette«, schnaufe ich atemlos, »dann müssen wir weiter, okay?«
»Wie weit ist es denn noch?«
»Nur noch über die Hügelkette.«
Jule schüttelt den Kopf. »Dann ist es hell.«
Ja, denke ich. Wir haben den Wettlauf verloren. Vielleicht hätte ich nicht ganz so weit nach Norden ausweichen sollen. Zwischen den Gruben des Turów-Tagebaus durch und dann erst Richtung Westen, vielleicht war es ein Fehler. Zudem meine größte Angst noch immer nicht besiegt ist: dass uns die Schlepper mit ihren Waffen und Hunden doch noch erwischen. Und inzwischen ist es taghell. Mist!
»Okay, jetzt wird es ernst«, sage ich, als wäre das davor ein Spiel gewesen. »Wir haben zwei Gegner. Den Grenzschutz und die Schlepper. Also haltet die Augen offen.« Ich drücke meine Karo im feuchten Moos aus und erhebe mich. »Auf, auf, Mädels, zur letzten Etappe.«
Wir schleichen durch den Wald die Hügel hinauf. Zur Neiße hin fallen sie an dieser Stelle sanft ab. Der Fluss macht hier zwei Schleifen, ist normalerweise flach wie eine Badewanne und von Sand- und Geröllbänken durchzogen. Aber seit zwei Tagen hat es fast ununterbrochen geregnet. Die Pegel sind gestiegen, und ich hatte damit gerechnet, dass die Auwiesen überschwemmt sind. Jetzt sehe ich, dass sogar ein Teil des Waldes im Wasser steht und sich an den Geröllbänken im Fluss Stromschnellen gebildet haben.
»Da müssen wir durch?«, haucht Jule erschrocken.
»Ja«, nicke ich, »wird nicht einfach. Der Vorteil ist, dass die Schlepper wohl nicht erwarten, dass wir’s trotzdem versuchen. Das dürfte so ziemlich der beschissenste Weg sein, um nach Deutschland zu kommen.« Ich sehe mich vorsichtig um. »Falls uns trotzdem jemand bemerkt, eine Grenzstreife oder so, rennt jeder in eine andere Richtung, klar?«
»Verstehe«, sagt Jule, »dann hat wenigstens einer von uns die Chance, davonzukommen.«
»Voll erfasst.« Ich sehe Jelena an. »Was ist mit dir?«
»Wenn Gefahr«, sagt Jelena, »jeder rennen woanders.«
»An der Grammatik übst du aber noch ein bisschen, oder?« Ich grinse sie an. »Also los!«
»Moment«, sagt Jule, »gib mir mal deine Zigarettenschachtel.«
Hast recht, denke ich, bevor die Fluppen nicht mehr zu gebrauchen sind …
Ich biete ihr eine Karo an, doch sie nimmt mir die ganze Schachtel aus der Hand, reißt die Rückseite ab und schreibt mit einem Kugelschreiber die Adresse der Pension und die Zimmernummer drauf.
»Falls wir uns verlieren.« Sie gibt die Pappe Jelena. »Da findest du Swetlana, okay?«
Jelena nickt dankbar und steckt die Notiz in die Hosentasche ihres grünen Trainingsanzuges.
»Vorwärts«, sage ich und marschiere los. Die Vögel machen einen Heidenlärm. Der Waldboden ist ziemlich aufgeweicht und wird zunehmend morastiger. Die Bäume vor uns lichten sich, stehen einzeln im Wasser. Dahinter rauscht die Neiße. Das sonst so beschauliche Grenzflüsschen ist zu einem ziemlich reißenden Strom geworden.
»Oh Gott, Kudella!« Jule ist stehen geblieben und zieht nervös den Reißverschluss ihres Anoraks auf und zu. »Ich glaub nicht, dass ich das schaffe.«
»Klar schaffst du das, Jule.« Ich nicke ihr zuversichtlich zu. »Denk daran, wie ich dir am Baggersee das Schwimmen beigebracht habe.«
»Ich kann nicht schwimmen.«
»Natürlich kannst du. Jeder kann schwimmen. Außerdem bin ich ja da, keine Angst.«
Ich laufe weiter und versinke bald bis zu den Hüften im Wasser. Heilige Scheiße, ist das kalt. Ich halte mich an einem Baum fest, reiche Jelena die Hand.
»Los, komm!«
Mit einem leisen Aufschrei rutscht auch Jelena bis zum Bauch in die Fluten.
»Los, Jule, du auch!« Ich wedele mit der Hand. »Je
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