Grenzwärts
»Entschuldige …«
Was ist bloß in mich gefahren? Wie konnte ich das tun? Es kam einfach über mich, ich konnte nichts machen. Ich konnte nicht!
Mit fahrigen Händen versuche ich, ihre Sachen etwas zu ordnen, will ihr den verrutschten Pulli wieder über den Bauch schieben, doch sie stößt meine Hände weg. Kalt. Verletzt.
Ein Tabubruch, schießt es mir durch den Kopf, das war ein Tabubruch. Der Schritt zu weit, der Sturz in den Abgrund. Nie mehr zu kitten …
Jule kriecht unter mir weg. Ihre Jeans sind feucht und glitschig, sie bekommt sie kaum wieder über die Schenkel mit ihren klammen Fingern.
»Jule …« Ich erschrecke über meine eigene Stimme. Sie klingt so heiser und schwach. »Jule, tut mir leid, okay?«
Sie sagt kein Wort, hockt von mir abgewandt im seichten Wasser und nestelt an sich herum, bibbernd, das Gesicht vom langen nassen Haar verdeckt. Der Anorak trieft und ist ihr halb vom Oberkörper gerutscht, sie zieht ihn sich zitternd wieder über die Schultern. Die Kapuze hängt schlaff und schwer an ihrem Rücken herab, mit nassem, traurigem Fell am Rand.
»Hey …« Vorsichtig berühre ich sie an den Schultern, aber sie zuckt heftig weg.
»Ich … Julia, bitte! Ich wollte das nicht.«
Aber das ist falsch. Eine glatte Lüge. Natürlich wollte ich es. Immer! Und wie.
Sie wollte es nicht. Das ist der Punkt.
»Wo ist Jelena?«, fragt sie nach einer Weile zähneklappernd.
»Weiter flussaufwärts«, antworte ich leise. »Wir sind ziemlich weit abgetrieben.«
Sie wischt sich schniefend mit dem nassen Ärmel über das Gesicht und versucht aufzustehen. Ich will ihr helfen, aber sie stößt mich weg und kommt auch allein auf die Beine.
Sie sieht an sich herunter, alles tropft, alles total nass.
»Scheiße«, flüstert sie und schließt den Reißverschluss ihres Anoraks.
Wir laufen am Ufer entlang. Frierend und ohne ein Wort. Steigen über feuchte Äste und Steine. Wenn das Wasser weit in den Wald hineinreicht, machen wir keinen Bogen mehr und laufen einfach hindurch. Platsch, platsch, nass sind wir sowieso, es ist egal geworden. Die Vögel um uns herum singen, als wollten sie mich verhöhnen und Jule trösten.
Natürlich braucht sie Trost, denke ich mit zunehmender Verbitterung. Muss ja ganz schrecklich sein, wenn so ein Typ wie ich über sie herfällt. Ein Tabubruch, na klar. Jetzt ist sie verletzt und beleidigt. Wieso eigentlich? Was ist an mir so schlimm? Was ist so schlimm daran, dass ich sie begehre?
»Was habe ich dir eigentlich getan?«
Keine Antwort. Julchen hat sich entschlossen, mit mir nicht mehr zu reden. Ich habe mich zu weit vorgewagt, habe meinen Gefühlen freien Lauf gelassen, und das war zu viel. Genauso gut hätte ich eine Nonne vögeln können. Ich bin verdammt in alle Ewigkeit.
»Aber warum?«, frage ich sie hilflos. »Okay, vielleicht war ich ein bisschen grob, aber … Was ist los? Bin ich nicht gut genug für dich?«
Jule schweigt.
»Hey!« Ich packe sie an der Schulter und ziehe sie zu mir. »Was hab ich dir getan, verdammt?«
»Du hast mich vergewaltigt, Arschloch!«
Ich pralle zurück. Wie kalt ihre Worte sind, wie verächtlich. Wie hasserfüllt sie mich ansieht. Als wäre ich ein Kinderschänder, ein Triebtäter oder so.
Aber das bin ich nicht. Jule ist kein Kind, und ich bin nicht pervers.
»Mann, ich liebe dich!« Meine Stimme klingt, als würde ich gleich heulen. »Seit Jahren schon. Ich liebe dich so sehr … Vielleicht sind meine Gefühle mit mir durchgegangen. Na und? Was ist daran so furchtbar?«
Sie antwortet mir nicht. Läuft stumm vor mir her, würdigt mich keines Blickes.
»Verdammt«, rufe ich lauter, »Roland hast du doch auch rangelassen! Diesen Wichser! Diesen ekelhaften Zuhälter!« Ich will nicht heulen und werde immer verzweifelter. »Denn genau das ist der. Ein kriminelles Schwein. Ein Mädchenhändler, der hat doch deine Jelena überhaupt hierhergelockt! Und deine Swetlana! Der nennt so was Frischfleisch, damit hat der sich seinen Porsche verdient!«
»Halt’s Maul!« Sie starrt mich mit hochrotem Kopf an. »Halt einfach dein Maul, okay?« Sie würgt, wendet sich ab und stützt sich an einem Baum ab.
Klar, jetzt ist ihr wieder schlecht. Verstehe ich sogar, denn das ist eine nur schwer verträgliche Wahrheit für einen Gutmenschen wie Jule. So was schlägt auf den Magen durch, aber hallo.
»Kotz dich ruhig aus«, sage ich, »ist ja auch zum Kotzen, was der Kerl so treibt. Wenn die den kriegen, geht er in den Knast.« Ich spucke
Weitere Kostenlose Bücher