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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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raus. Nicht zu fassen.
    »Sie haben Angst«, stellte der Schwarze fest, »Todesangst, das sehe ich Ihnen an. Sie sind panisch geflohen.« Er setzte sich wieder. »Wollen Sie mir nicht endlich erzählen, wovor?«
    »Russen«, antwortete Tom kläglich, »die wollen hier das Geschäft übernehmen.«
    »Igor und Valentin Gussinski?«, erkundigte sich der Schwarze.
    »Sie kennen die?« Tom riss die Augen auf.
    »Natürlich«, der Schwarze schrieb gelassen etwas in einen sehr edlen, ledernen Notizblock, »die Herren sind der Polizei schon länger bekannt. Gefährliche Leute, nicht wahr?«
    Wohl wahr, dachte Tom. »Wir hätten uns nie mit denen einlassen dürfen«, sagte er leise.
    »Vielleicht hätten Sie sich auf dieses ganze Geschäft nicht einlassen sollen«, erwiderte der Schwarze.
    »Was sollten wir denn tun«, rief Tom, »hier gibt es doch nichts mehr. Keine Arbeitsplätze, keine Betriebe, nichts. Alles plattgemacht! Von Typen aus dem Westen wie Ihnen.«
    »Ich bin aus Dresden«, erklärte der Schwarze, »ich bin hier geboren und nie weiter als bis zum Elbsandsteingebirge herausgekommen. Auch ich kenne die Verwerfungen, die uns diese ganze Wende gebracht hat«, wurde er lauter, offenbar, weil es ihn nervte, immer entweder für einen Afrikaner oder seit Neuestem auch für einen Westler gehalten zu werden. »Eine Wende, die es, wenn es nach mir gegangen wäre, nie hätte geben müssen! Aber es hat sie gegeben, Herr Pagels, und wir mussten lernen, dass unsere  DDR , das angeblich drittgrößte Industrieland der Welt, allein auf dem Weltmarkt nie hätte bestehen können. Wir wurden belogen, Herr Pagels! Sie, ich, wir alle. Von unseren eigenen Genossen. Aber das ist noch lange kein Grund, jetzt sämtliche moralischen Grundsätze über Bord zu werfen!«
    Holla, dachte Tom, was für ein Ausbruch. Der Kerl schien einiges in sich hineingefressen zu haben. Aber musste er das jetzt an ihm auslassen?
    »Glauben Sie«, brüllte der Schwarze, »dass, nur weil wir jetzt in einer freien kapitalistischen Welt leben, alles erlaubt ist? Gesetze nicht mehr gelten, jeder moralische Anstand einfach über Bord geworfen werden kann? Des Geldes wegen?«
    »Die Spedition war so gut wie pleite«, schrie Tom zurück. »Ich wäre zum Arbeitslosengeldempfänger geworden, hätte vom Staat leben müssen, wäre das besser gewesen? Es heißt doch immer, die Menschen im Osten müssen die Initiative ergreifen. Nichts anderes haben wir getan!«
    »Sie sind kriminell geworden!«
    »Na und?«, rief Tom. »Immer noch besser als Sozialamt!«
    »Und die Mädchen«, fragte der Schwarze, »haben Sie mal darüber nachgedacht? Wie sich die Mädchen fühlen müssen, die sie mit ihren vollmundigen Versprechungen hierhergelockt haben? Um sie in Puffs für sich arbeiten zu lassen und sie zu verkaufen? Das ist doch monströs! Sie sind ein Monster, Tom Pagels, ein kleines, empathieloses Arschloch, das gerne das große Rad drehen wollte und sich jetzt vor mir in die Hosen scheißt.« Wütend lehnte sich der Schwarze zurück. »Eine miese kleine Ratte«, setzte er hinzu, »das sind Sie für mich. Und wissen Sie was? Am liebsten würde ich Sie zurückjagen über die Grenze, zurück in die Krallen der Teufel, die Sie gerufen haben, auf dass sie Sie bei lebendigem Leibe grillen.«
    »Das dürfen Sie gar nicht«, sagte Tom verunsichert, »Sie müssen mich hierbehalten.«
    »Was ich muss und darf, können Sie gar nicht ermessen«, winkte der Schwarze ab und rieb sich angestrengt die Augen.
    »Aber genug des Vorgeplänkels«, er schaltete das Tonband an, »Sie wollten eine Aussage machen. Schießen Sie los!«
    »Mein Name ist Pagels«, begann Tom steif, »Tom Pagels aus Zittau, Karl-Liebknecht-Straße zwölf. Ich bin bei der Spedition Paich-Transportlogistik GmbH beschäftigt und war dort bis vor etwa einem Jahr als Fahrer eingesetzt. Doch die Aufträge wurden immer weniger. Es gab kaum noch Arbeit für mich. Die Spedition war so gut wie pleite. Und so entwickelte ich mit dem Junior eine neue Geschäftsidee …«

51
    ES IST EIN WETTLAUF  mit der Dämmerung. Sie kommt viel zu schnell. Seit Stunden sind wir unterwegs, hetzen über frisch mit Wintergerste bestellte Äcker, versinken mit jedem Schritt in feuchter Erde, wir rennen geduckt an den Kanten riesiger Braunkohlegruben vorbei und arbeiten uns durch das feuchte Unterholz der Wälder. Nebelfetzen stehen zwischen den Bäumen, feuchte Äste schlagen uns entgegen, es regnet welkes Laub.
    Die Mädchen können kaum noch, und

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