Grenzwärts
mit Kindern, Jugendliche, Senioren beim Kaffee.
Wie lange war das her?
Julia kam es vor wie gestern und eine Ewigkeit.
Nachdem sie ausgiebig geduscht und sich umgezogen hatte, machte sie sich über die Innere Weberstraße auf den Weg zum Töpferberg. Die alten Häuser links und rechts wirkten arg mitgenommen. An den Rokokofassaden hatte der Zahn der Zeit genagt, Putz blätterte ab. Die früher einmal sicher sehr hübsche Altstadt – sie wirkte dem Verfall preisgegeben, unendlich grau und farblos. Kohls blühende Landschaften – in Zittau ließen sie auf sich warten. Immerhin waren einige der Häuser bereits eingerüstet oder wie der »Johannishof« schon renoviert worden. Hier und da wurde gebaut, neue Leitungen und Abwasserkanäle wurden verlegt, Straßen asphaltiert. Wer genauer hinsah, erkannte spärliche Anzeichen des Aufbruchs: neue Geschäfte, Restaurants und Boutiquen, einzelne Farbtupfer, die das Übrige dann umso trauriger aussehen ließen.
Warum war ihr diese Tristesse damals nie aufgefallen? Weil sie verliebt war, jung und nichts anderes kannte?
Auch der »Podtsch e.V.«, so verkündete es ein selbst gemaltes Schild über dem Eingang, residierte in einem großen, mit diversen Graffiti bemalten, sonst aber recht baufällig wirkenden Gründerzeitgebäude.
Drinnen herrschte hektische Betriebsamkeit. Junge Mädchen in Latzhosen und proletarisch anmutenden Malerkitteln klebten an langen Tapeziertischen eifrig Antifa-Plakate und großformatige Flyer für ein Volksfest zur Völkerverständigung im Dreiländereck, andere hatten ihre Haare zu Rastafarizöpfen geflochten und wurden in einem Saal von einem korpulent wirkenden Brasilianer in die Tanztechniken des Capoeira eingeweiht. Es gab Ikebana- und Töpferkurse für AsylbewerberInnen sowie eine Sprachschule. Tschechisch für Anfänger. Wer lieber Polnisch lernen wollte, so teilte ein handgeschriebener Zettel mit, könne dies ab sofort kostenlos bei Dariusz Wrzebylski in Polen tun. Dazu war eine Wegbeschreibung aufgemalt, mit dem Rad sei man in knapp zehn Minuten drüben.
Julia brauchte einen Moment, bis sie sich zurechtfand. Die regionalen Gruppen von Greenpeace und Amnesty International hatten hier ihren Sitz, auch gab es Büros zur Bürger- und Eingliederungshilfe, Verbraucherberatung, psychotherapeutische Betreuung und ein mehrsprachiges Kummertelefon.
»Hi«, wandte sie sich schließlich leicht errötend an eine Mittzwanzigerin mit burschikosem, grün gefärbtem Bürstenschnitt, »gibt’s hier ‘n Sekretariat oder so was?«
»Nee, da stimmt was nicht«, murmelte der Bürstenschnitt abwesend und studierte nachdenklich ein handgenähtes Transparent, das zur Begutachtung vor die Fenster gehängt worden war und » SCHLUSS MIT DER DISKRIMINIERUNG SYSTEMATISCH VERFOLGTER « forderte.
Julia grübelte, denn sie empfand den Spruch als widersprüchlich und irritierend. Waren hier wirklich die Opfer systematischer Verfolgung gemeint? Oder Diskriminierte, die von einem wie auch immer gearteten System verfolgt wurden? Oder ging es um das System der Verfolgung selbst?
»Müsste es nicht besser heißen«, erkundigte sie sich zaghaft, »›Schluss mit der systematischen Diskriminierung Verfolgter‹?«
»Was?« Die Frau sah auf, als wäre sie gerade erwacht.
»Ich weiß zwar nicht, worum es genau geht«, entschuldigte sich Julia, nun knallrot im Gesicht, »aber …«
»Artikel 16a«, erklärte der Bürstenschnitt: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.«
»Verstehe …« Julia überlegte, woher sie die Frau kannte. Irgendwer von früher. Aber wer?
»Der Staat versucht, sich ums Grundgesetz zu drücken«, erklärte die Frau mit dem Bürstenschnitt weiter, »indem er den Asylbewerbern hier und anderswo das Leben so unerträglich wie möglich macht. Zudem werden sie diskriminiert.«
»Systematisch?«, fragte Julia.
»Ja«, nickte der Bürstenschnitt, »zum Beispiel als Wohlstandsflüchtlinge oder …«
»Systematische Diskriminierung«, freute sich Julia, »sag ich doch.«
»Was?«
»Die Leute, von denen ihr redet, werden nicht systematisch verfolgt …«
»Das auch.«
»Ja«, nickte Julia und trieselte eifrig eine ihrer Haarlocken, »in ihren Herkunftsländern sicher. Aber soweit ich das verstanden habe, wollt ihr ja gegen die Diskriminierung hier – und zwar die systematische Diskriminierung der Asylanten durch den Staat – protestieren.«
»Das sind keine Asylanten«, widersprach der Bürstenschnitt entschieden und sah Julia
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