Grenzwärts
halten! Die haben die Weisheit mit Löffeln gefressen, die müssen immer missionieren, agitieren und wollen einen zum besseren Menschen erziehen.« Wie früher! In der DDR hat dir auch Hinz und Kunz gesagt, was du zu tun und zu lassen hast. Schrecklich. Hat das nie ein Ende? Ich sehe Jule an und hoffe, dass sie mich versteht. »Weißt du, ich will mich nicht dauernd erziehen lassen. Nicht mehr. Ich bin einundzwanzig, warum darf ich nicht einfach sein, wie ich bin? Was wollen die immer alle von mir? Ich will einfach nur meine Ruhe. Und vielleicht auch mal ernst genommen werden.«
Jule lächelt schwach. Irgendwie mitfühlend, aber sie lächelt mich an. Mit ihren herrlichen grün-braun gesprenkelten Augen.
»Sind die wieder okay?«, frage ich. »Du trägst gar keine Brille mehr.«
»Kontaktlinsen.« Julia trinkt ihr Bier aus. »Die sind viel billiger als Brillen.«
»Du hast deine Brille sowieso immer gehasst.«
»Die sah ja auch bescheuert aus.« Jule lächelt breiter. »Weißt du noch, wie du dich damals vor mich hingestellt und mir die Haare geöffnet und die Brille abgenommen hast?« Sie macht vor, wie ich wohl damals gestanden hab. »Und dann hast du so geguckt und gesagt: ›Na, da ist noch Hoffnung. Mit ein bisschen Glück wird aus dir später vielleicht doch noch ein ganz scharfes Gerät.‹« Sie lacht, und es ist dasselbe helle Lachen wie früher. »Oh Mann! Du warst schon damals ein totaler Idiot!«
Wieso? Ich hatte doch recht. Sie ist doch ein oberrattenscharfes Gerät geworden.
»Und trotzdem habe ich dich gemocht.« Sie beißt sich auf die Unterlippe, sieht mich versonnen an und wiederholt. »Sehr gemocht. Obwohl du immer Mist gebaut hast.« Sie schüttelt den Kopf. »Kudella, Kudella, Kudella! Mein alter, bester Freund …«
Mir wird ganz warm ums Herz. Es explodiert fast. Am liebsten würde ich sie packen, zu Boden werfen und küssen. Knutschen, wie ich sie noch nie geknutscht hab.
Aber wir sind noch ganz am Anfang. Die Liebe keimt erst auf bei ihr. Und ich kann dieses zarte Pflänzchen jetzt nicht einfach zerdrücken, nur weil ich mich »emotional nicht unter Kontrolle habe«, wie mein Bewährungshelfer immer zu sagen pflegt.
Dabei hab ich mich gerade so dermaßen voll in der Gewalt, auch wenn’s schwerfällt. Ganz still stehe ich und lausche gebannt Jules wärmenden Worten.
»Ich bring dich jetzt nach Hause, okay?« Sie nimmt meinen Arm und hakt sich sanft bei mir ein. »Bevor du noch mehr Mist baust. – Schicker Anzug, übrigens.«
»Den haben mir die Zecken kaputt gemacht.«
»Wenn, dann waren das die Bullen«, widerspricht Julia und setzt sich die Kapuze ihres Anoraks auf. »Da sind nur die Nähte geplatzt, das kann man wieder nähen.«
Und so schwatzend ziehen wir durch den strömenden Regen davon.
15
BIS AUF DIE GRENZE, die Görlitz von seinem östlichen, heute auf der polnischen Seite gelegenen Stadtteil Zgorzelec trennte, war die Stadt vom Krieg verschont geblieben. Ein begehbares Museum aus fünfhundert Jahren europäischer Baugeschichte: gotische Kirchen, Renaissancepaläste, barocke Stadthäuser. Hotels im Jugendstil, Bankhäuser aus der Gründerzeit, spätmittelalterliche Patrizier-Villen. Oft waren die herrlichen Bauten in den langen Jahren finanziell chronisch klammer SED -Herrschaft heruntergekommen, einige sogar einsturzgefährdet, doch dank großzügig fließender westdeutscher Fördermittel für den Aufbau Ost kamen zahlreiche Investoren. Steuerlich absetzbar wurde an allen Ecken und Enden gebaut, restauriert und renoviert, es herrschte Goldgräberstimmung. Der alten Stadt an der Nahtstelle zwischen Ost und West wurde eine große Zukunft vorhergesagt.
Na, mal sehen, dachte Schwartz, stoppte den Wagen zwischen Bauzäunen am Untermarkt und suchte ein paar Münzen aus seinem Portemonnaie. Dann nahm er die Visitenkarte, die ihm der Grenzbeamte vom Übergang Stadtbrücke am Morgen so verstohlen in die Hand gedrückt hatte, und rief von einer Telefonzelle aus das Bundesgrenzschutzamt in Pirna an.
»Schön, dass Sie sich melden«, sagte Caesar Goldenbaum am anderen Ende der Leitung, kaum dass Schwartz sein Begehr erklärt hatte, »können wir uns sofort treffen?«
»Ähm«, machte Schwartz, »sofort wird etwas schwierig, ich bin ja hier in Görlitz.«
»Dann treffen wir uns auf halber Strecke«, sagte Goldenbaum. »Nehmen Sie die A4 ab Weißenberg nach Bautzen. Dreiviertelstunde?«
Dieser Goldenbaum schien ein ganz Schneller zu sein.
»Wo in Bautzen?«, fragte
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