Grenzwärts
schwieg. Wenn Oma unbedingt Schicksal spielen wollte …
»Wir schlafen getrennt«, ließ sich die Petkovic vernehmen, und Schwartz überlegte, ob er das nun bedauern sollte oder nicht. Vermutlich war es besser so.
»Ich bin katholisch«, setzte Liliana Petkovic hinzu und rauchte schon wieder.
»Richtig, Kindchen, nur nichts überstürzen«, tröstete sie Oma augenzwinkernd, »das wird schon.«
Schwartz wartete, bis Oma die Treppe raufgegangen war, und beugte sich dann zur Petkovic rüber. »Für wie lange wollen Sie denn hier einziehen?«
»Beruhigen Sie sich. Ich bin morgen wieder weg.« Sie sah ihn an. »Vorausgesetzt, Sie ermitteln weiter.«
»Und wenn nicht?«
»Dann wachse ich hier fest.«
Bloß nicht, dachte Schwartz und trank noch einen Schnaps.
18
DER BAGGERSEE ist eine aufgegebene Tagebaugrube am Rande von Zittau, die sich im Laufe der Jahre mit Wasser gefüllt hat. Das verrostete Gerippe eines halb versunkenen Eimerkettenschauflers reflektiert sich in den trüben Fluten. Am Rande steht ein alter Bauwagen. Die Farbe ist abgeblättert, die Fenster vernagelt, ebenso die Tür. Irgendwer hat mit unbeholfener Kinderschrift »Kudella liebt Jule« an den Bauwagen gemalt. Ein anderer hat »Kudella« durchgestrichen und stattdessen »Roland« drübergeschrieben. Es ist lange her.
Ich hocke, in meine Bomberjacke gehüllt, auf einer vergessenen Braunkohlelore, deren Gleise irgendwo im Modder verschwinden. Der Regen hat viele Pfützen hinterlassen, an meinen Doc Martens klebt lehmiger Matsch.
»Vuelvo al Sur«. Ich kriege den Tango nicht mehr aus dem Kopf. Und Jule. Lia, wie sie sich jetzt nennt. Wie oft bin ich mit ihr hier unten am Baggersee gewesen. Vor allem im Sommer, wenn das Wasser warm ist und man darin baden kann, obwohl es nicht besonders sauber aussieht. Im Winter waren wir hier eislaufen. Aber da war Roland schon mit dabei, dieser blöde Idiot.
Einmal ist Jule im Eis eingebrochen. Roland rannte erschrocken am Ufer hin und her und wusste nicht, was er machen sollte. In seiner Panik hätte er Jule fast ersaufen lassen. Ich war es, der ein Seil am Gerüst des Eimerkettenbaggers festgemacht hat und vorsichtig zu ihr hinaus aufs Eis gerobbt ist. Aber als ich an der Einbruchstelle ankam, war sie schon untergegangen. Ich musste in die eisigen Fluten tauchen, um sie wieder rauszuholen.
»Ohne dich bin ich verloren«, hat sie später gesagt. »Ich werde dich nie verlassen, denn du rettest mir immer das Leben.« – Lachhaft!
Ich sehe auf die tschechische Armeepistole in meiner Hand. Eigentlich wollte ich sie im Baggersee versenken, aber das Magazin ist voll, acht Schuss, und ich hab Lust, die Patronen zu verballern. Also ziele ich auf den alten Fahrstand des Baggers. Er hat kleine engmaschige Fenster, und ein paar Scheiben sind noch ganz. Ganz links etwa, die kleine Glasscheibe in der Ecke. Ich entsichere die Pistole, ziele mit beiden Händen und drücke ab. Treffer. Glasscherben rieseln ins Wasser.
Ich konnte schon immer gut schießen. Das war mir wichtig. Mein Vater hat es mir beigebracht, bevor er sich umbrachte. Er war bei der Feuerwehr, zuständig für das Entschärfen alter Fliegerbomben aus dem Weltkrieg. Blindgänger sozusagen. In Dresden gibt es noch Tausende davon. Bis heute unbemerkt, irgendwo versteckt im Erdreich, bis sie bei Bauarbeiten zufällig gefunden werden. Dann musste immer mein Vater ran, und nie war klar, ob er den Einsatz überleben würde. Mit dem Stress kam er irgendwann nicht mehr zurecht. Er fing erst an zu trinken, und dann hat er sich erschossen. Ich fand ihn in der Küche. Da war ich zehn. Mutter hat das nicht überwunden. Die sitzt seit Jahren in der Klapsmühle und erkennt niemanden mehr. Nur ich blieb übrig und musste ins Heim. Aber da kamen sie mit mir auch nicht klar. Ich war froh, als ich mit achtzehn endlich wegkonnte, und zog in die Laube. Sie hatte einem Zahnarzt gehört, der nach dem Mauerfall in den Westen gegangen war. Auf dem Hängeboden fand ich ein altes Luftgewehr, total verzogen, aber es funktionierte. So hatte ich was zu tun. Tage- und wochenlang machte ich Zielübungen, bis ich selbst mit dem alten Teil jede Fliege traf.
Vater hatte recht: Wer einmal richtig schießen kann, verlernt es nie.
»Alter! Was geht?«
Piet kommt heran und ist sichtlich froh, mich hier zu finden. Ein spindeldürrer Typ, siebzehn Jahre alt, mit großen Kinderaugen und spitzer Nase, doch immerhin schon kahl geschoren, weil er auch gerne mal ein richtig großer Skinhead
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