Grenzwärts
Julia irgendwo gelesen, kriegen nur Leute einen Waffenschein, die ein makelloses polizeiliches Führungszeugnis vorweisen können, mithin nicht vorbestraft sind.
Nichts davon traf auf Kudella zu. Er war weder Jäger noch Mitglied einer Schützengilde, und er war vorbestraft. Zudem gehörte Kudella nicht zu den Leuten, die sich groß um Gesetze scherten, kurz: Seine Waffe war illegal. Was sonst? Etwas anderes hatte Julia auch nicht erwartet.
Sie hatte sich sehr geärgert deswegen, war wütend und enttäuscht, und ihr erster Impuls war, zur Polizei zu gehen. Anzeigen, den Kerl, bevor er mit seiner Waffe Mist bauen konnte. Und das würde er, Kudella baute immer Mist.
Andererseits würde eine solche Anzeige für ihn ganz sicher eine Haftstrafe bedeuten. Er war auf Bewährung auf freiem Fuß. Er wäre ja schon für seinen Besuch im Podtsch ins Gefängnis gekommen, wenn Julia nicht stundenlang auf die Leute dort eingeredet hätte. Sie war eben der Meinung, dass Gefängnisstrafen alles nur schlimmer machten. Einem Typen wie Kudella half man nicht damit, dass man ihn einbuchtete. So einer brauchte Zuwendung, jemanden, der sich um ihn kümmerte und ihm den rechten Weg wies. Denn eigentlich war er ja kein schlechter Kerl, oder?
Julia kaute nachdenklich auf einer Haarspitze herum und seufzte schwer. Vermutlich war es ein Fehler gewesen, einfach wegzurennen. Sie hätte ihm die Waffe abnehmen müssen. Und dann das Ding in die Neiße schmeißen oder so. Und sie hätte ihm in aller Ruhe klarmachen müssen, dass Waffen absoluter Mist waren. Dass er sie mit so was nicht beeindrucken konnte. Obgleich es nicht so aussah, als hätte er sie damit überhaupt beeindrucken wollen. Aber was wollte er dann mit der Waffe?
Schießen. So viel war klar. Wer eine Waffe hat, will damit schießen. Und er wird es tun, wenn er ein Ziel hat, auf das er schießen kann. Was aber war Kudellas Ziel?
»Julia Latte, bitte! – Hallo? – Haaallooo! – Ich fürchte, unser Düsseldorfer Gast scheint mit seinen Gedanken derzeit ganz weit weg.«
Das Gelächter riss Julia aus ihren Gedanken. Erschrocken richtete sie sich auf und starrte auf das Transparent über der Bühne in der alten Zittauer Stadthalle. »FREMDHEIT ÜBERWINDEN – GRENZEN ÜBERSCHREITEN – IDEEN FÜR EINE EUROREGION NEISSE« stand da. Sie befand sich auf einer Podiumsdiskussion des Podtsch mit Vertretern gleichgesinnter Vereine aus Polen und der Tschechischen Republik, und es ging um die Frage, wie man die Sprachbarriere und die grenzüberschreitende Kommunikation in der Region verbessern könne, um die aus der jüngeren Geschichte resultierenden Vorbelastungen und Vorbehalte zwischen den Völkern zu überwinden.
Da Julia aus Düsseldorf kam, einer Stadt, die, wie man hier annahm, ähnliche Probleme haben könnte, weil sie sich in ähnlich grenznaher Situation zu Holland und Belgien befand, sollte die neue Praktikantin nun schildern, wie die Dinge im Westen angegangen wurden. Aber sie schlief offenbar.
»Nein, ich …«, verteidigte sich Julia stammelnd und erhob sich, »… ich, ähm … Ich habe nur darüber nachgedacht, dass man die Kooperation zwischen den verschiedenen Ländern institutionalisieren müsste. Die Probleme hier«, führte sie weiter aus, »neben der Sprachbarriere sehe ich da vor allem auch die desolate Infrastruktur, sind grenzüberschreitend verzahnt und können auch nur grenzüberschreitend gelöst werden. Aber es sollte eine Koordinationsstelle geben, einen zentralen Punkt, an dem die Kommunikation zusammenfließt.«
»Und wir sollten, meine ich, die Räumlichkeiten unseres Engagements genauer definieren«, mischte sich ein tschechischer Vertreter ein. Makellose Grammatik, aber starker Akzent. »Was ist das für ein Gebiet«, fragte er, »von dem wir hier reden? Wie groß ist es? – Denn wir, meine ich, können nicht die ganze Welt verbessern, wir müssen uns auf unsere Sache hier konzentrieren und brauchen dafür Grenzen.«
»Grenzen« sei der völlig falsche Ausdruck, fand Utta Piotrowski, der grüne Bürstenschnitt. Schließlich wolle man ja Grenzen abbauen und nicht neue errichten.
Dennoch sei eine Definition des Gebietes, in dem die hier zu besprechenden Maßnahmen künftig gelten sollten, zwingend notwendig, darauf beharrte der Tscheche, und Julia versuchte, sich auf den weiteren Verlauf der Debatte zu konzentrieren. Hier ging es immerhin um das große Ganze. Europäische Luftschlösser, die zur Realität werden sollten. Nach dem Zusammenbruch
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