Grenzwärts
des Kommunismus lagen Städte wie Zittau, Liberec und Jelenia Góra in der Mitte des Kontinents, nicht mehr Bonn, Köln oder Brüssel. Hier wurde die Zukunft aufgebaut, hier war der Kern eines politisch-gesellschaftlichen Experiments, das Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen und Sprachräumen zu einer neuen innereuropäischen Identität zusammenführen wollte. Große Visionen also, und Julia dachte trotzdem nur an Kudella.
Aber was wollte sie von ihm? Ihn erziehen? War sie seine Mutter? Natürlich nicht. Trotzdem fühlte sie sich verantwortlich. Weil sie ihn mochte, weil er irgendwie immer noch ihr Freund war. Und weil sie es rührend fand, wie er sich an alles erinnerte, was damals war. Da hatte er sie aus ihrer Isolation geholt, hatte sie nicht nur einmal gerettet, sowohl physisch als auch psychisch. Damals war sie schwach und konnte nichts für ihn tun. Heute schien er, trotz seiner körperlich-männlich protzenden Präsenz, der Schwache zu sein. Frustriert, einsam und verletzt. Er brauchte Hilfe, so viel war klar.
Doch war Julia überhaupt die Richtige, um ihm zu helfen? Und was sollte sie tun? Wie konnte sie ihm helfen? War es nicht doch besser, wenn sie sich einfach nur auf sich konzentrierte, um später einen guten Start ins Studium zu finden? Wenn sie Beobachterin blieb und alles mitschrieb, um das gesellschaftliche Leben hier zu analysieren, statt sich aktiv einzumischen? Selbst wenn sie dabei zusehen musste, wie andere den Bach runtergingen?
Nein! Julia stand auf, entschuldigte sich leise bei ihren Sitznachbarn und verließ den Saal, als müsse sie mal auf die Toilette.
Wenig später stand sie vor seiner Laube in der zugewachsenen Kleingartenanlage an der Chopinstraße, und Kudella war nicht da. Auch sein Jeep fehlte. – Mist!
Da die Laube nicht abgeschlossen war – wieso auch, zu holen gab es hier eh nichts –, trat sie ein. Puh, wie es hier roch! Die Waffe war nicht zu sehen. Entweder hatte Kudella sie mitgenommen oder irgendwo versteckt.
Langsam öffnete Julia den Reißverschluss ihres Anoraks und zog ihn aus. Hier gab es einiges zu tun, das hieß Ärmel hochkrempeln, wie ihre Mutter immer sagte.
Als Erstes entfernte Julia die Reichskriegsflagge über dem Bett. Die konnte man noch als Wischlappen benutzen. Dann sah sie nach, ob es irgendwo Putzmittel gab, denn die Laube brauchte so eine Art Grundreinigung. Im Klo stank es fürchterlich, aber es gab ein paar chemische Bomben, mit denen man die gröbsten Keime vernichten konnte. Als Nächstes war der schimmelige Abwasch dran. Und dann der ganze schmuddelige Rest. Sauberkeit war ein Anfang. Und vielleicht fand sie ja beim Putzen auch die Waffe.
20
DIE NÄCHTE KOMMEN früher jetzt. Es ist bereits dunkel, als wir den Johannisplatz erreichen, obgleich es gerade mal Viertel nach sechs ist. Die Pension »Johannishof« hat ihr kleines Restaurant im Parterre geöffnet, und so hole ich Piet und mir erst mal was zu trinken.
Die alte Rouché steht am Tresen, ihr Mann klimpert am Klavier vor sich hin. Ein Stück, das ich noch aus der Tanzschule kenne. »The Girl from Ipanema«. Jule fand es immer zu langsam. Bossa Nova, hatte sie immer gemeint, sei ein fiebriger, nervöser Rhythmus, den müsse man schnell tanzen.
Ich bestelle zwei große Bier und sehe mich im Raum um. Wenn der Alte Bossa Nova spielt, ist es durchaus möglich, dass auch Julia in der Nähe ist, oder? Aber ich sehe sie nicht. Nur ein Tisch ist mit mehreren Männern in Anzügen besetzt, die einen Vertragsabschluss oder so was feiern. Sie heben ihre Sektgläser und prosten sich geschäftig zu. »Meine Herren: Auf gutes Gelingen!«
»Ist sie da?«, frage ich die Rouché, doch die schiebt mir geistesabwesend die zwei Gläser Bier über den Tresen und starrt durch die großen Fenster des Restaurants zur Straße hinaus.
»Was, um Himmels willen, ist denn da los?«
Stimmung, denke ich grinsend, denn soeben ist der Hurenbus mit viel Trara auf den Johannisplatz gerollt. Blinkende Lichtgirlanden zu beiden Seiten der rosa lackierten »Sex Machine« versprechen »Heiße Abenteuer der besonderen Art«, und aus den großen, auf das Dach montierten Boxen schmachten die Platters, dass es von den umliegenden Häuserwänden widerhallt: »Only you – can make this world seem right – o-hon-ly you – can make the darkness bright …«
Kaemper dreht eine Ehrenrunde und stoppt den Bus direkt vor der Kirche.
»Only you and you alone – can thrill me like you do – and fill my heart with
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