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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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bald ins Trockene komme. Oder eine handfeste Grippe. Bei Frost in nassen Klamotten rumlaufen, nee, das hält kein Immunsystem aus.
    »In der Nähe gibt es eine kleine Datscha«, sagte sie zähneklappernd zu Swetlana, »von einem Freund. Da können wir uns erst mal aufwärmen, okay?«
    »Okay«, nickte Swetlana, denn auch sie begann allmählich zu frieren.
    Zitternd liefen sie die Chopinstraße hinunter.
    »Was wolltest du am Fluss?«, fragte Julia, nur um etwas zu sagen. Reden lenkte ab, auch von der Kälte. »Hast du auf jemanden gewartet? Jemanden, der durchs Wasser nachkommt?« Sie versuchte ein Lächeln. »Vielleicht einen Freund?«
    Swetlana schwieg.
    »Komm schon«, blieb Julia hartnäckig, »ich sag’s niemandem weiter, okay?«
    »Ich habe keinen Freund«, stieß Swetlana plötzlich wütend hervor, »nicht hier, verstehst du? Nicht in Deutschland!«
    »Aber zu Hause?« Julia sagte es zaghaft und vom plötzlichen Ausbruch Swetlanas irritiert. »In Minsk?«
    »Nein!« Swetlana schüttelte heftig den Kopf. »Ich wollte zu meiner Schwester.«
    Julia sah sie an. Offenbar kämpfte Swetlana mit den Tränen. Irgendwas war, irgendein Problem. Julia hätte sie gern getröstet. Wo Swetlana ihr doch quasi das Leben gerettet hatte.
    Wie oft wäre ich schon gestorben, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf, wenn nicht immer jemand da gewesen wäre, der …
    Oh, mein Gott! Für einen Augenblick wurde ihr ganz mulmig. Warum immer ich, dachte sie, warum passiert immer mir so was? Weil ich dazu bestimmt bin, früh zu sterben? Irgendein dummer Unfalltod oder so?
    Unsinn, schalt sie sich, bislang bist du ja immer davongekommen.
    Sie war eben ein Pechvogel, etwas chaotisch, etwas gedankenverloren, und dann passierte es halt, dass man bei helllichtem Tag gegen eine Laterne rannte oder fast vom Auto überfahren wurde, weil irgendwas auf der anderen Straßenseite ihr Interesse geweckt und sie deshalb nicht auf den Verkehr geachtet hatte. So was war Schicksal. Kein Einzelfall. Es gab eben Leute wie Julia, die verunglückten mit dem Fahrrad, brachen im Winter im Eis ein oder fielen grundlos in die Neiße. Und es gab Leute, denen passierte das alles nicht. Oder nur einmal, und dann waren sie tot. Julia jedenfalls hatte bislang jede Katastrophe überstanden. Glück im Unglück nannte man das wohl. Was besser war, als gar kein Glück zu haben.
    Und Swetlana? Was war mir ihr? Offenbar gehörte sie zu jenen Mädchen aus Osteuropa, die sich prostituierten. Das sah man schon an ihrem Äußeren. Netzstrumpfhosen und hohe Stiefel. Zu dick geschminkt und ein knappes Lackjäckchen über dem engen Bustier. Und jung war sie, viel zu jung. Julia schätzte sie auf höchstens siebzehn. War es das Geld wert? Harte Westmark? Ging es den Mädchen in ihren Heimatländern so schlecht, dass sie, nicht mal volljährig, ihre Körper verkaufen mussten, um zu überleben? Oder steckte noch was anderes dahinter? Swetlana jedenfalls litt, das sah ein Blinder. Sie brach fast in Tränen aus und wollte dringend zu ihrer Schwester. Trotzdem hatte sie Julia geholfen. Und jetzt wollte Julia Swetlana helfen.
    »Was ist mit deiner Schwester?«, fragte sie mitfühlend. »Ist sie noch in Russland?«
    »Irgendwo hinter der Grenze. In Polen, ich weiß nicht genau.« Swetlana hatte jetzt wirklich Tränen in den Augen. »Ein Freier von mir hat sie dort in einem Hotel gesehen. Zufällig. Ihm war aufgefallen, wie ähnlich sie mir ist. Wir sind …«, Swetlana überlegte, »… Zweilinge?«
    »Zwillinge.«
    »Der Freier hat Jelena von mir erzählt. Und da hat sie ihm den Brief mitgegeben. Damit ich weiß, wo sie ist. Damit sie aufhören, uns zu erpressen.«
    »Sie erpressen euch?«
    »Ja. Und heute kam der Freier zu mir und gab mir heimlich den Brief. – Sieh!« Sie zeigte Julia eine Tasche an ihrem roten Lackjäckchen, die ausgerissen war. »Da habe ich ihn hineingesteckt.« Sie fing an zu weinen. »Und jetzt habe ich ihn verloren!«
    Das ist schlimm, dachte Julia betroffen. »Hast du ihn verloren, als du mich aus dem Wasser gezogen hast?«
    »Nein.« Swetlana hob hilflos die Schultern. »Da war er schon weg. Ich kam an den Fluss und wollte den Brief so zwischen die Zähne nehmen, siehst du?« Sie zeigte Julia ihre schönen, makellosen Schneidezähne. »Damit er nicht nass wird, wenn ich durchs Wasser muss. – Aber er war nicht mehr da.«
    Brrr, überlegte Julia, mich würde niemand freiwillig in den Fluss kriegen. Und dieses Mädchen tut’s für ihre Schwester …
    Sie

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