Grenzwärts
hatten jetzt die Kleingartenanlage fast erreicht.
»Von wem werdet ihr denn erpresst?« Julia wollte den Hauptweg zu den einzelnen Parzellen einschlagen, als sie von Swetlana erschrocken zurückgehalten wurde.
»Nicht!«
»Was ist?« Julia verstand nicht.
»Das Auto!« Swetlana zeigte auf Kudellas Jeep, der mit hochgeklappten Verdeck unter einem alten, knorrigen Kirschbaum stand. »Nicht gut.«
»Nicht gut?« Kudellas Jeep? Wieso? – Himmel noch mal! Julia war furchtbar kalt, sie erfror fast, und Kudellas warme Hütte war in Sichtweite. »Was ist nicht gut?«
»Lass uns gehen! BITTE !« Swetlanas letztes Wort klang wie ein panischer Hilfeschrei, und so ließ sich Julia mitziehen. Zurück auf die frostkalte Straße. Weg vom Warmen, vom Trockenen, von Kudellas frisch aufgeräumter Laube. Mist!
»Vielleicht sagst du mir mal, was überhaupt los ist«, verlangte Julia zähneklappernd, als sie weiter Richtung Altstadt liefen. »Vielleicht kann ich dir ja helfen. Aber dazu müsste ich wissen, was dein Problem ist. Bevor ich auf offener Straße den Kältetod sterbe.«
Also erzählte Swetlana es ihr. Erzählte, wie sie sich vor vier Monaten mit ihrer Schwester auf den Weg nach Deutschland gemacht hatte, zweier charmanter junger Deutscher wegen. Heiraten wollten sie die hübschen Schwestern aus Minsk und mit ihnen in schönen Villen leben, ganz so wie es Swetlana und Jelena aus den amerikanischen Fernsehserien kannten, die seit ein paar Jahren auch in Weißrussland zu sehen waren. Dass beide noch zur Schule gingen, fanden die Deutschen nicht so schlimm. Auch in Deutschland gebe es Schulen, hatten sie beteuert, bessere als in Minsk, und anschließend könnten die Mädchen studieren, was sie wollten.
»Sie haben uns einen Traum versprochen«, sagte Swetlana düster, »und wir sind in einem Alptraum gelandet. Weil wir ihnen geglaubt haben.«
Da die Mädchen keine gültigen Papiere hatten, sollten sie nachts zunächst über die Grenze nach Polen geschleust werden. Doch so eine Schleusung kostete Geld. Geld, das die Schwestern nicht hatten, ihnen die Deutschen aber großzügig liehen. Wenn sie erst in Deutschland seien, könnten es die Mädchen rasch abarbeiten. Das sei gar kein Problem.
»Nie war etwas ein Problem«, stieß Swetlana wütend hervor. »Alles war leicht, so unglaublich einfach, weil wir so naiv waren.«
An der deutschen Grenze war dann die nächste Schleusung, und es wurde noch teurer, weil Deutschland besser gesichert war, wie es hieß. Am Ende hatten die Schwestern fast zehntausend Mark Schulden. Kein Problem, alles kein Problem, denn auf der anderen Seite wartete ja schon der Hurenbus. Erst da wurde ihnen klar, wie sie das Geld abarbeiten sollten. Sie weigerten sich, versuchten wegzulaufen, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Denn zur Strafe wurden die Schwestern getrennt.
»Seitdem erpressen sie uns«, flüsterte Swetlana hilflos, »mich mit dem Leben von Jelena und Jelena mit meinem.«
Deshalb habe sie im Liebesbus gearbeitet, eine illegale Hure in einem fahrbaren Bordell. Ohne Papiere, ohne Geld, ohne Hoffnung. Und ohne zu wissen, wie es ihrer Zwillingsschwester auf der anderen Seite der Grenze erging.
Was für Schweine, dachte Julia betroffen. In was für einer schrecklichen Welt leben wir eigentlich? Das ist ja furchtbar, das kann doch nicht wahr sein!
»Und die deutschen Männer«, fragte sie, »die euch das alles eingebrockt haben? Wo sind die?«
»Einem gehört der Liebesbus, der ist manchmal da«, antwortete Swetlana und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Den anderen habe ich nicht mehr gesehen.« Aber heute, erzählte sie weiter, seien zwei Kerle aufgetaucht. Mit diesem Jeep. Zwei Kerle in Bomberjacken. Sie hätten den Bus nach Zittau geführt, wo er wenig später von anderen Kerlen in Bomberjacken überfallen und angesteckt wurde.
Kudella! Julia war fassungslos. Auch das noch! In was für eine Nazischeiße war er jetzt wieder verwickelt? Als gäbe es nicht ohnehin schon genug Elend. Aber klar, das passte zu ihm. Ein fahrbares Bordell geht schließlich gar nicht. Nicht in Deutschland, nicht mit ausländischen Mädchen. Also fackelt man es ab! – Dieser Vollidiot, diese total bescheuerte Dumpfbacke, oh Mann!
Plötzlich fielen ihr die vielen Menschen auf, die alle über die Rosa-Luxemburg-Straße dem Theaterring zustrebten. Was Julia peinlich war, immerhin lief sie in klitschnassen Klamotten rum, und Swetlana war noch immer barfuß und hatte ihre riesigen
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