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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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Stulpenstiefel in der Hand.
    »Alle Mädchen sind weg«, schluchzte sie hilflos, »sie haben sie mitgenommen. Nur ich bin noch da.«
    »Sie haben die Mädchen mitgenommen?« Julia konnte es kaum glauben. »Die Nazis? – Wohin?«
    »Ich weiß nicht, wohin.« Swetlana schüttelte den Kopf. »Sie wurden alle auf einen Laster getrieben und weggefahren.«
    Wie bei den Judentransporten früher, dachte Julia entsetzt. Wie pervers sind diese Naziidioten eigentlich? Nachher haben sie sich noch private KZs gebaut, oder was? – Schrecklich!
    »Mich haben sie nicht gefunden«, flüsterte Swetlana leise, »weil ich auf dem Kirchhof war.«
    Sie hatten die Altstadt fast erreicht, und auf dem Theaterring hatte sich eine Lichterkette gebildet. Tausende Zittauer mit flackernden Kerzen in den Händen. Und alle marschierten auf den Markt und den Johannisplatz zu.
    Auch Swetlana zeigte auf den mächtigen Turm der Johanniskirche. »Dort ist es passiert! Der Freier wollte mich festhalten, aber ich bin trotzdem weggelaufen. Vielleicht habe ich den Brief dabei verloren …« Sie knautschte drei Fünfzig-Mark-Scheine in ihren Händen. »Siehst du? Das Geld hab ich noch.«
    Kämpferisch begannen die Demonstranten um Julia und Swetlana herum das Lied der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zu singen:
     
    »We shall overcome,
    We shall overcome,
    We shall overcome some day …«
    Das kannten alle. Der Song war Pflicht an den Schulen in der  DDR  gewesen, im Musikunterricht, wenn es um Gospel ging, in Geschichte, wo Martin Luther King und die Unterdrückung der Schwarzen in Amerika ein Thema waren, und natürlich auch im Englischunterricht, aber der war fakultativ. Julia fand es schön, dass so viele Leute mitsangen. Es war ein beruhigendes Gefühl, sich unter Gleichgesinnten zu finden. Aufrechten Demokraten, die diesen ganzen Nazischeiß satthatten. Es gab ihr Kraft, und es war verwirrend. Denn obwohl so viele Menschen im wiedervereinten Deutschland dagegen waren, passierten sie eben doch, die rassistischen Anschläge. Man konnte nicht laut genug dagegen ansingen.
     
    »Oh-ho deep in my heart
    I do believe,
    We shall overcome same day.«
    Sie sang ergriffen mit und versuchte, das Durcheinander in ihrem Kopf zu ordnen. Okay, dass Kudella ein Schwein war, das russische Huren entführte, war eine furchtbare Erkenntnis, doch zunächst musste das Problem von Swetlana geklärt werden. Immerhin hatte die ihr das Leben gerettet. Swetlana suchte den Brief ihrer Schwester, und wenn sie ihn wirklich auf dem Kirchhof verloren hatte, sollte er dort auch zu finden sein.
    Man kann alles wiederfinden, dachte Julia. Wenn man weiß, wo man suchen muss.
    Sie hatte völlig vergessen, wie kalt ihr war.

25
    DIE TELEFONKETTE   FUNKTIONIERTE.  Sie war von einem parteiübergreifenden Bündnis, dem Podtsch e.V. und der Zittauer Mittelstandsvereinigung gegründet worden, um, wie es der Bürgermeister versprochen hatte, »Negativschlagzeilen und Rufschädigung als Folge fremdenfeindlicher Randale von der Stadt fernzuzuhalten«. Jeder Bürger, der über einen Telefonanschluss verfügte und sich eintragen ließ, konnte in kürzester Zeit mobilisiert werden, um gegen drohende rechtsradikale Übergriffe wirkungsvoll zu demonstrieren.
    Wenige Minuten nach Mitternacht kam Oberkommissar Romeo Schwartz mit seiner Déesse trotz Blaulicht und Hupe kaum noch voran. Die ganze Stadt schien auf den Beinen. Singende Bürger mit Kerzen blockierten die Altstadt, die Glocken von Sankt Johannis läuteten einen Fürbittgottesdienst ein, Transparente, die »Nazis raus aus Zittau!« forderten, versperrten Schwartz die Sicht. Als er schließlich entnervt am Markt den Wagen stehen ließ, war der Hurenbus bereits gelöscht worden. Ein verkohltes Stahlskelett, an dem mehrere Feuerwehren Brandwache hielten. Streifenwagen standen blaulichternd daneben, die Beamten hatten den gesamten Tatort um die Kirche herum mit rot-weißen Bändern abgesperrt.
    »Morgen.« Schwartz trat auf die beiden Pionteks zu, die zwischen all den Demonstranten in ihrem zivilen Dienstgolf saßen und herzerweichend gähnten. »War die Spusi schon da?«
    »Äh, was?«
    »Spurensicherung«, wurde Schwartz deutlicher, doch Tobi und sein Vater starrten ihn nur erstaunt an.
    »Du kommst«, fragte Tobi mitleidig, »mit deinen Ermittlungen vorwärts?«
    »Sieht man mir das an?« Schwartz lächelte. Sein verwundetes Gesicht schmerzte, und natürlich sah er etwas derangiert aus. »Aber keine Sorge! Die anderen sehen

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