Grenzwärts
»Dresden« vor ihren Verfolgern im Labyrinth der Fjorde Feuerlands verstecken, bevor sie in den Pazifik aufbrach, wo sie sich in der Cumberland Bay selbst versenkte, um nicht dem Feind in die Hände zu fallen. Die Flagge des Schiffes aber brachte der Vater mit nach Hause und schenkte sie seinem Sohn.
Und dieser gab sie Jahrzehnte später mir, als ich endlich, mit achtzehn Jahren volljährig, das Heim verlassen durfte.
»Die ›Dresden‹ ist ein Mythos«, hatte der alte Hausmeister mit feuchten Augen zum Abschied gesagt, »der aus einer Niederlage geboren wurde. Und diese Flagge ist ein Symbol dafür, dass unser Scheitern nur der Anfang von etwas Neuem ist. Du darfst nie die Hoffnung verlieren, Andreas. Niemals.«
Und jetzt ist die Flagge weg. Wie gelähmt starre ich auf die kahle Wand über meinem Schlafsofa und kann es nicht fassen. Diese verdammten Schweine! Was haben die sonst noch geklaut?
Unruhig sehe ich mich um. Seltsam. Wie aufgeräumt es ist. Irgendjemand hat den Boden gewischt, das Geschirr abgewaschen und, wie der alte Seebär sagen würde, Reinschiff gemacht. Selbst Klo und Fenster sind geputzt.
Träume ich? Oder hat mir der Nigger vorhin so dermaßen die Birne weich geklopft, dass ich jetzt Wahnvorstellungen habe? Halluzinationen?
Auf dem Tisch neben dem Fernseher liegt ein Zettel. »Ich wollte noch mal mit Dir über die Pistole reden« , stand da in Jules schöner, leicht nach links gekippter Schrift, »aber Du bist nicht da. Was vielleicht gut ist, denn so kann ich das Ding gleich wegschmeißen – ohne Diskussion.«
Spinnt die? Wieso will sie das gute Schießeisen wegschmeißen? Kann sie doch gar nicht, ich hab die Knarre bei mir … Und das scheint auch Jule gemerkt zu haben, denn auf dem Zettel heißt es: »Scheiße, ich hab die blöde Waffe nicht gefunden. Hoffentlich tust Du damit niemandem was an …«
Ja, klar, denke ich spöttisch, ich latsche ja auch nur so durch die Gegend, um irgendwelche Leute umzulegen. Wäre ich so drauf, hätte ich den Niggerbullen vorhin einfach abgeknallt. Stattdessen ließ ich mich von dem windelweich prügeln. Julchen, Julchen, du musst noch viel lernen.
»… Dein restliches Waffenarsenal werde ich jedenfalls entsorgen, genau wie den ganzen Faschokram, vielleicht springt Dein Kopf ja doch irgendwann wieder an. Übrigens eignet sich die Nazifahne super zum Putzen …«
Nazifahne? Schätzchen, das ist keine Nazifahne, sondern die Seekriegsflagge der kaiserlichen Marine von 1914! Da gab’s noch gar keine Nazis, capito?
Und putzen, was heißt »putzen«?
Moment mal, durchfährt es mich eiskalt, hat diese Irre etwa die teure Flagge der SMS »Dresden« als Scheuertuch missbraucht? – Die hat doch echt nicht mehr alle Tassen im Schrank!
»Das Ding musste weg« , steht auf ihrem Zettel, »denn ich werde mich ganz sicher nicht mit Dir unter diesen rassistischen Lappen legen. Falls Du das je geglaubt hast.«
Nie im Leben, Baby, aber jetzt machst du mir völlig neue Hoffnungen. Denn im Umkehrschluss muss das heißen, jetzt, wo die Flagge der »Dresden« nicht mehr hängt, legst du dich durchaus zu mir auf die Couch … Oder wie oder was?
Mann, mir wird ganz heiß in Kopf und Brust. Unter diesen Umständen relativiert sich natürlich der Verlust der Seekriegsflagge etwas. Wenn ich Jule dafür auf mein Sofa kriege …
Ich schaue im Kühlschrank nach, aber es ist kein Bier mehr da. Ich habe nur noch den Cognac aus der Tankstelle. Hastig öffne ich den Verschluss und trinke einen großen Schluck. Und dann noch einen. Danach bin ich bereit.
Conchitababy, ich komme! Der Fall muss ausdiskutiert werden, und zwar sofort!
Mit dem GAZ brettere ich zurück in Richtung Altstadt und stoppe scharf, denn auf dem Johannisplatz sind immer noch verdammt viele Bullen unterwegs. Überall wehen rot-weiße Absperrbänder, und um das Gerippe des ausgebrannten Busses kriechen irgendwelche Typen in grauen Overalls mit Pinzetten und Taschenlampen auf dem Kopfsteinpflaster herum – offenbar suchen sie Spuren. Etwas abseits hat der Podtsch e.V. eine Mahnwache eingerichtet. Margots Frisurendouble mit Gleichgesinnten zwischen Teelichtern und Antifa-Plakaten – toll!
Ich lege den Rückwärtsgang ein und parke den GAZ etwas abseits. Nach wie vor habe ich wenig Lust, von den Bullen abgegriffen zu werden. Zumal ich zwar nichts mit dem Brandanschlag zu tun habe, wohl aber damit, wie der Bus auf den Johannisplatz kam.
Und jetzt?
Jules Pension liegt
Weitere Kostenlose Bücher