Grenzwärts
sah es ruhig aus, der Verkäufer schlief über einem Comic hinter seinem Tresen und hatte den einsamen Kunden draußen noch nicht mal bemerkt.
»Morgen!« Betont munter betrat Schwartz den Tankstellenshop und sah sich um. Immerhin hatte der Verkäufer den Laden wieder aufgeräumt, bevor er in tiefen Schlummer gefallen war. Der Boden war gewischt, nirgendwo eine Blutspur, die Regale standen ordentlich aufgeräumt an ihrem Platz.
»Hallo!« Er rüttelte den Verkäufer wach. »Kundschaft!«
»Ah, Sie schon wieder!« Der Verkäufer streckte sich. »Diesmal voll?«
»Der Tank, ja.« Schwartz seufzte. Ewigkeiten war es her, seit er seinen letzten Vollrausch hatte. Vermutlich arbeitete er zu viel. Nach dieser Geschichte, so nahm er sich vor, würde er Urlaub machen. In ferne Länder reisen, nach Übersee, sechs Wochen lang Karibik oder so. Die Tage im Müßiggang am Strand vergeuden und abends unter Palmen bis zum Umfallen Daiquiri trinken. Ja, das könnte ihm gefallen.
»Tut mir übrigens leid«, sagte der Verkäufer, »was passiert ist.«
»Ja«, nickte Schwartz und schob einen Geldschein über den Tresen. »Mir auch.«
»Die lungern öfter hier rum«, erzählte der Verkäufer, »vor allem nachts, wenn nichts mehr aufhat in der Stadt. Da kann man nichts machen.«
»Kann man nicht?«
»Nun«, der Verkäufer lächelte verlegen, »ich kann ja nicht einfach sagen: Hört zu, Jungs, ihr kriegt nichts mehr bei mir.«
»Doch, doch«, antwortete Schwartz und lächelte aufmunternd zurück, »das können Sie. Versuchen Sie’s mal! Wiederschaun.«
28
MEIN ERSTER GEDANKE IST: Einbrecher! In meiner Laube! Wahrscheinlich Katenbachs DVU -Idioten, denn sie haben meine Seekriegsflagge mitgenommen. Ein Original, über neunzig Jahre alt.
Die Flagge des Kleinen Kreuzers SMS »Dresden« – einfach gestohlen!
Der alte Hausmeister vom Kinder- und Jugendheim » A. S. Makarenko« hatte sie mir geschenkt. Ein alter Seebär, der früher selbst bei der Marine gewesen war und stundenlang von längst vergessenen Seeschlachten erzählen konnte. Sie lenkten mich ab vom tristen Alltag im Heim und ließen mich träumen.
Dereinst würde ich, dachte ich damals, auch zur See fahren, feindliche Panzerschiffe besiegen und den härtesten Stürmen trotzen. Mit siebzehn fuhr ich zur Flottenschule »Walter Steffens« nach Parow an die Ostsee, um als Rekrut bei der Volksmarine anzuheuern. Ein Offizier thronte hinter einem riesigen Schreibtisch, auf dem eine beeindruckende blank polierte Schiffsgranate aus Messing stand, mindestens fünfzig Zentimeter hoch und, wie der Offizier grinsend betonte, noch immer scharf. Er fragte mich, wie ich denn zum gesetzmäßig bevorstehenden weltweiten Sieg des Kommunismus über die Menschheit stünde, und ich begann, mich um Kopf und Kragen zu reden:
Denn schon rein militärisch gesehen sind Siege niemals gesetzmäßig. Jede Schlacht birgt immer auch das Risiko der Niederlage, gute Vorbereitung hin oder her. Und der Kommunismus ist ein Irrtum, eine gesellschaftsphilosophische Geisteskrankheit sozusagen, genau wie das Gequatsche im Staatsbürgerkundeunterricht. »Jeder nach seinen Bedürfnissen, jeder nach seinen Fähigkeiten« – blanker Unsinn. Denn von sich aus hat der Mensch weder besondere Fähigkeiten noch Bedürfnisse. Nur wenn er sich am anderen messen kann, aufsehen zu jenen, die mehr haben, besser und erfolgreicher sind, wachsen der eigene Ehrgeiz und der Mensch über sich hinaus. Neid ist der Motor jeden Fortschritts. Insofern ist die kapitalistische Marktwirtschaft die dem Menschen gemäßere Gesellschaftsform. Folgt man dagegen den Hirngespinsten des Kommunismus, landet man irgendwann wieder bei Faustkeilen und Lagerfeuer wie die Urmenschen.
So sprach ich und brachte mich um den begehrten Dienst bei der Volksmarine der DDR .
»Scheitern muss man als Chance begreifen«, tröstete mich der alte Hausmeister, als ich wieder daheim im » A. S. Makarenko« saß.
Er erzählte mir von der legendären Odyssee der SMS »Dresden« während des Ersten Weltkrieges. Damals, im Jahre 1914, hatte sein Vater, Fregattenkapitän zur See Fritz Emil Lüdecke, das Kommando auf dem Schiff. Bei einer verheerenden Niederlage vor den Falklandinseln verlor Vizeadmiral Graf Spee sein gesamtes Geschwader, einzig die SMS »Dresden« entkam. Diese Flucht begründete den Ruhm des Kreuzers. Er wurde von der gesamten englischen Flotte gejagt und blieb dennoch unbesiegt. Monatelang konnte sich die SMS
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