Grenzwärts
Wange, als wäre sie bei der Perwoll-Reklame. »Wie neu, nicht wahr? Herrlich kuschelig.«
»Ja, sehr schön«, nickte Julia, »vor allem bei dem Wetter draußen. Da kann ich ihn nachher gleich wieder anziehen.«
»Wenn Sie hier oben frühstücken möchten, brauchen Sie’s nur zu sagen«, sagte Frau Rouché, »am besten am Abend zuvor. Jetzt habe ich schon für Sie unten gedeckt.«
»Kein Problem.« Julia wollte, da sie ja den Wäschekorb in beiden Händen hielt, die Tür mit dem Fuß schließen, doch Frau Rouché hielt dagegen.
»Soll ich gleich lüften und die Bettwäsche aufschütteln?«
»Nein, das mach ich schon. Vielen Dank!« Julia drückte die Tür entschieden mit dem Hintern zu und lauschte, ob sich die Wirtin im Flur auch wirklich entfernte.
»Okay, sie ist weg.«
»Ich bin schuld!« Schluchzend kam Swetlana hinter dem Vorhang hervor. »Ich habe Jelena das eingeredet. Lass uns nach Deutschland gehen, in Minsk haben wir keine Zukunft mehr.«
Julia schwieg betroffen.
»Und jetzt?« Hilflos ließ Swetlana den Brief fallen. »Ist das etwa Zukunft? – Wir sind Abschaum geworden«, flüsterte sie düster und sank wieder aufs Bett, »und in der Hölle gelandet.«
»Aber nein.« Julia nahm sie tröstend in den Arm. »Du bist entronnen, Swetlana, und du hast einen Schutzengel. – Mich!«
Swetlana lächelte schwach. »Du bist mir ein schöner Schutzengel. Du hast ja noch nicht mal Flügel!«
»Ich kann auch nicht schwimmen«, sagte Julia schulterzuckend, »aber laufen, und ich weiß, wo Bogatynia ist. Höchstens fünfzehn Kilometer von hier. Gleich hinter dem Tagebau.«
»Gut.« Swetlana sprang auf, um sich die Stiefel anzuziehen. »Das finde ich schon.«
»Quatsch, du findest gar nichts.« Entschieden zog Julia sie wieder aufs Bett.
»Worauf noch warten?« Swetlana sprang wieder auf. »Der 12. Oktober ist schon morgen. Dann bringen sie Jelena weg. Ich kann nicht warten!«
»Du kommst doch noch nicht mal über die Grenze.«
»Ich bin schon einmal durch die Neiße gegangen«, erwiderte Swetlana trotzig, »das schaffe ich auch ein zweites Mal.«
»Und mit Jelena ein drittes Mal«, Julia winkte ab, »und jedes Mal müsst ihr die Schlepper bezahlen. – Wovon denn?«
»Ich habe hundertfünfzig Deutsche Mark«, sagte Swetlana entschieden, »und ich werde keine Schlepper mehr brauchen. Jelena und ich fahren einfach nach Hause. Zurück nach Minsk.«
Julia seufzte. Sollte sie Swetlana einfach ziehen lassen? Das wäre sicher das Einfachste. Zumindest wenn man nicht weiter drüber nachdachte.
Aber Julia dachte nach. Und sie ahnte, dass es Swetlana allein nicht schaffen würde. Selbst wenn sie es unbemerkt durch die Neiße und bis nach Bogatynia schaffen sollte. Würden die Schlepper sie und ihre Schwester einfach ziehen lassen? Wohl kaum. Jelena wurde dort nicht ohne Grund festgehalten.
Und wenn es den Mädchen tatsächlich gelänge, zu fliehen, wie weit würden sie kommen? Verfolgt von einer Bande von skrupellosen Menschenhändlern durch ganz Osteuropa? Nee, Julia schüttelte unmerklich den Kopf. So wurde das nichts.
»Wir brauchen Hilfe, wenn wir deine Schwester da rausholen wollen«, sagte Julia entschieden und wickelte eine Haarsträhne fest um ihren Finger, »professionelle Hilfe.«
36
ROLAND SASS AM STEUER der silbergrauen S-Klasse und sah starr durch die Windschutzscheibe. Die Wischer liefen, der Wagen schaukelte, denn es ging über einen schmalen, unbefestigten Weg an der Abbruchkante des Berzdorfer Tagebaus entlang.
Hinten, auf der anderen Seite, gruben sich gigantische Schaufelradbagger stetig durch den Untergrund, eine riesige Absetzerbrücke beförderte Unmengen von Abraum, und über lange Förderbänder gelangte die Braunkohle zu Gleisen, auf denen schier endlose Reihen von Güterwaggons auf ihre kostbare Fracht warteten. Kipplader fuhren umher, Ketten- und Planierraupen krochen wie gewaltige Käfer über den Grubengrund.
Nie zuvor im Leben hatte Roland eine solche Angst verspürt. Nur mühsam konnte er die immer wieder in ihm aufkommende Panik niederringen, sie lähmte ihn völlig, und das Wichtigste, was er jetzt brauchte, war doch ein klarer Kopf.
Okay, versuchte er sich zu beruhigen, okay, okay. Alles, was sie wollen, ist Swetlana. Wenn ich sie finde, ist alles gut. Wenn ich sie finde.
Und wenn nicht? Allein der Gedanke, dass ihm dann ein ähnliches Schicksal wie das von Kaemper bevorstand, ließ ihn unkontrolliert zittern. Schlimmer als ein Tattergreis, er konnte kaum noch
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