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Grenzwärts

Grenzwärts

Titel: Grenzwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
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2.2.1888
    »Lieber Himmel! Ihre Tante ist wirklich schon sehr lange tot.«
    »Sag ich doch.« Behände lief sie zum Ausgang des Kirchhofes.
    Schwartz folgte ihr und hielt sie fest. »Was wollten Sie hier wirklich?«
    »Wie meinen Sie das?« Entrüstet fuhr die junge Frau herum.
    »Ich nehme Ihnen die Geschichte mit der Tante nicht ab.«
    »Nicht?« Sie zuckte mit den Schultern. »Na, zum Spaß werde ich hier wohl kaum Blumen auf irgendwelche Gräber legen.«
    »Eben.«
    Die junge Frau biss sich verlegen auf die Lippen und trieselte unruhig eine ihrer langen rotblonden Haarlocken. »Das war für eine alte Dame«, sagte sie schließlich. »Die ist nicht mehr so gut zu Fuß.«
    »Auch falsch«, erwiderte Schwartz. »Sie haben hier etwas ganz Bestimmtes gesucht. – Was?«
    »Ist das jetzt ein Verhör?«
    »Nein.« Schwartz ließ sie nicht aus den Augen. »Aber vielleicht haben Sie ja eine gespaltene Beziehung zur Wahrheit.«
    »Wahrheit ist immer subjektiv«, gab die junge Frau zurück, »aber das wissen Sie sicher.« Sie sah ihn herausfordernd an. »Lassen Sie mich los? Sonst schreie ich!«
    Schwartz hob beschwichtigend die Hände und ließ sie ziehen.
    »Wiedersehen, Herr Oberkommissar.«
    Ganz bestimmt, dachte Schwartz und folgte ihr mit dem Blick, bis sie im »Johannishof« verschwunden war.

35
    NA ENDLICH!  Mehrfach hatte Julia auf dem Kirchhof das Gefühl gehabt, gleich zerspringen zu müssen, weil sie diesen hartnäckigen Kerl von Kommissar nicht loswurde. Aber dann hatte ja doch alles prima geklappt.
    Als sie den Brief endlich entdeckt hatte, feucht vom Nieselregen, aber neben dem alten Grabstein nicht zu übersehen, war sie einfach geradeaus weitergelaufen, damit der dusselige Kommissar nichts davon mitbekam. Dann hatte sie sich urplötzlich umgedreht und war losgerannt, Blumenstrauß aufs Grab, Brief eingesteckt – fertig, bevor der Bulle überhaupt schnallen konnte, was eigentlich los war! Supi! Ein uralter Trick, im Sport nannte man das Antäuschen.
    Julia jubelte innerlich und stürmte in ihr Zimmer.
    »Na, was sagst du nun?« Triumphierend hielt sie den Brief in die Höhe. »Ist er das?«
    »Du hast ihn?« Swetlanas Gesicht erhellte sich merklich. »Du hast ihn wirklich!« Dankbar fiel sie Julia um den Hals.
    »War gar nicht so einfach«, erzählte Julia, »ich hatte ständig einen Aufpasser am Hals. Der ließ sich nicht abschütteln.«
    »Hat er was gemerkt?« Swetlana starrte sie erschrocken an.
    »Nein, jedenfalls nicht direkt«, beschwichtigte Julia sie. »Ihm ist wahrscheinlich klargeworden, dass ich nicht wegen der Blumen da war. Aber sonst … Keine Gefahr!« Sie schüttelte die langen Locken und lachte. »Ich hab ihn ausgetrickst. – Hier! Nun lies schon!« Sie gab Swetlana den Brief und trat neugierig neben sie. »Was steht da jetzt drin?«
    »Also«, Swetlana übersetzte die kyrillischen Worte ins Deutsche. »Meine liebe Schwester, ich habe den Brief heimlich geschrieben und abgesandt. Das Hotel heißt ›Polonia‹ und der Ort Bogatinia oder Bogatynie, ich weiß nicht genau …«
    »Bogatynia«, nickte Julia aufgeregt. »Das ist gleich hinter der Grenze.«
    »Ich bin hier noch bis 12. oder 13. Oktober, haben sie gesagt«, las Swetlana weiter. »Wohin sie uns danach bringen, weiß allein der Teufel. Ich habe Heimweh und kein gutes Gefühl. Sie sind so unfreundlich zu mir, und ich habe doch nichts getan. Du fehlst mir. Ich habe Angst, dass wir uns nie mehr wiedersehen, und hoffe, du bekommst den Brief. – In Liebe, Jelena.«
    Die letzten Worte hatte Swetlana nur noch stockend übersetzt. Mit Tränen in den Augen sank sie aufs Bett.
    Julia schwieg betroffen.
    Plötzlich klopfte es an der Zimmertür. Die Mädchen zuckten zusammen.
    »Fräulein Latte«, hörte man die Rouché rufen, »sind Sie da?«
    »Die hat mir noch gefehlt«, stöhnte Julia. »Versteck dich hinter dem Vorhang, schnell! Falls Sie reinkommt.«
    Sie wartete, bis sich Swetlana hinter den schweren Gardinen am Fenster verborgen hatte, und öffnete dann genervt die Tür. »Bringen Sie mir das Frühstück?«
    »Nein, aber Ihre Wäsche. Sauber und trocken.« Frau Rouché drückte ihr einen Plastikkorb in die Hand. Julias brauner Steppanorak lag sorgfältig zusammengelegt obenauf. »Ich hab ein bissel Weichspüler zugegeben und Tennisbälle in den Trockner getan. Damit nichts klumpt.« Sie lächelte und versuchte einen Blick ins Zimmer zu erhaschen. »Fühlen Sie mal!« Frau Rouché strich Julia mit dem Ärmel des Anoraks über die

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