Gretchen
erinnerte sich an ihre kurze psychotische Zeit in New York, in dieser merkwürdigen WG mit Happy Linda, Pregnant Boy und Kiki The Butcher, in der es immer nur um Bewusstseinserweiterung, Gehirnzellentötung und sexuelle Perversionen ging. Die mittellose Avantgarde ging damals ein und aus in der heruntergekommenen Fabriketage in SoHo, in der alle immer nur Performance machen wollten, Gysin, Fluxus und The Merry Pranksters »dufte« fanden und sich ansonsten in intergalaktische Spermien und ottomuehle Happenings transzendierten. Eine Zeit, an die sich Gretchen Morgenthau mit einem Anflug von Unbehagen zurückerinnerte, zumal es hygienische Missstände zu beklagen gab, die auch eine Frau von Welt keineswegs gutheißen konnte. Selbst dann nicht, wenn sie in Rangun einst mit Kakerlaken duschte oder in Hanoi frittierte Heuschrecken in offenherzigen Garküchen speiste.
»Wow, wow, wow! Abgefahrene Party, was? Wo kommst du her, schöne alte Frau?«
Der junge Holzfäller, der von seinen Freunden Helgi gerufen wurde, hatte etwas im Bart, Bierschaum oder Sabber, schwer zu sagen. Er trug einen neongelben Blouson aus Ballonseide und eine übergroße Armbanduhr, auf der Daffy Duck und Elmer Fudd im Kreis tickten. Seine halblangen Wikingerhaare wurden von einem Björn-Borg-Gedächtnisstirnband gebändigt. Aus Frottee. Sein Gesicht war abseits des Bartes rosig und glatt, ganz unschuldig, wie das eines Babys. Er konnte nicht wissen, dass Babys keinen Welpenschutz genossen, dass auch sie zu bezahlen hatten, wenn die Anrede Anstand und Respekt vermissen ließ.
»Eine Melange. Bitte.«
»Melange?«, fragte Helgi irritiert nach. »Melange? … Ich dachte immer … ich spreche perfekt … Englisch … Melange? … Ah! Wien! Wien! Du bist Wienerin! Kaffeehäuser! Und Kutschen! Und Kaiserschmarrn! Und Inzest und Hitler und so! Abgefahren.«
Helgi setzte sich ungebeten auf einen freien Stuhl. Falsch herum. Er umklammerte die Rückenlehne und schaute Gretchen Morgenthau aus großen Kulleraugen an. »Ich bin Helgi. Mein Künstlername ist DieHippieDie. Episode 902. Ich bin DJ und Musiker. Elektronische Musik. Stockhausen. Kraftwerk. Radioaktivität. Maschine. Autobahn. Und so. Ich werde bald berühmt sein. Erzähl mal, was machst du so?«
Gretchen Morgenthau langweilte sich gar sehr. Auch zählte Biergeruch nicht zu ihrem Lieblingsparfum, nicht einmal in der Kombination mit Knoblauch. Sie hob das Kinn ein klein wenig, atmete tief ein, schloss die Augen für einen kurzen Moment und sagte mit ruhiger, sanfter Stimme: »Ich bin von Haus aus Terroristin. Ich töte Menschen. Nur zum Spaß.«
»Abgefahren. Meine allerbasicsten Gefühle des Respekts. Hatte ich auch mal überlegt. War mir dann aber zu mainstream«, sagte Helgi, der urplötzlich und völlig unvorbereitet auf eine romantische Ader stieß: »Ich möchte deine Pusteblume sein. Mach mich nackig.«
»Bitte?«
»Puste.«
Dass Betrunkene mitunter über Grenzen taperten, dass sie die Kontrolle über ihr belangloses Ich verloren und gegen eiserne Laternen knallten, das war nichts Neues. Dass sie es aber wagten, Göttinnen in einer derart plumpen wie auch impertinenten Flauschigkeit anzurufen, das indes zeugte von der seltenen Gabe, schwachsinnig und hirntot zugleich zu sein. Gretchen Morgenthau überlegte, ob es in der Nähe wohl eine Müllverbrennungsanlage oder einen Schrottplatz gebe, denn die Entsorgung war seit jeher ein nicht zu unterschätzendes Problem im Beseitigungsgewerbe.
»Willst du mal einen Song von mir hören«, fragte Helgi, der eine seiner beiden Kopfhörermuscheln feilbot, selig grinste und sagte: »Ich bin nicht sicher, welcher Track dir gefallen könnte. Entweder Kryptonit, Mademoiselle oder Vollporno Tatütata, Baby. Beides leider geil. Also eine Frage des Geschmacks. Hängt ein bisschen davon ab, ob du mehr auf Beat stehst oder die intellektuelle Herausforderung suchst. Bei Track zwei geht es um Friktion. Und Permanenz. Die Botschaft lautet: Die Wege des Herrn sind unergründlich, also gründe nicht. Es erinnert ein bisschen an Euphorie und Potpourri, mein Erstlingswerk, das in gewissen Kreisen krass abgegangen ist. Ich sag nur so viel: Love and peace, ihr alten Hippieschlampen, Finger in den Popo und ab dafür.«
Waren Taten einst größer als Worte, so mussten jene Zeiten vor Glück schier bersten. Die Moderne aber schwafelte in einem fort, und nichts mochte ihr Einhalt gebieten, nicht einmal das Sandmännchen. Dann fiel Gretchen Morgenthau ein, dass sie noch
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