Gretchen
Einbildung sein. Er durfte sich nicht irritieren lassen, dies war sein Moment. Er tupfte seine Stirn mit einem Seidentaschentuch ab und holte noch einmal tief Luft.
»Eure Könnerschaft möge Epochen überdauern und selbst hier brillieren. Wie Sie das Authentische erleiden, wie Sie das Unbewusste bewusst machen, aus einer Position der Verletzung und des Verletzens heraus, wie Sie die Poesie entfesseln und sie wieder einfangen, ihr einen Körper geben und sie auf die Bühne stellen, das, so wollen wir meinen, zeugt in der öffentlichen Verhandlung über das Gebotene und Verbliebene von einer ungeheuren, wenn nicht ungeheuerlichen Vermessenheit. Und so ist das Entlassen, ich möchte beinahe sagen, das Selbstentlassen aus der Matrix des Nichtankommens ein Hinweggleiten, ein Über-sich-selbst-Hinauswachsen aus der Hemisphäre des Möglichen, durch das Sie uns, und dies sei unbenommen, eine völlig neue Sichtweise auf die losgelöste Radikalität allen Seins ermöglichen. In der Suche nach der existenziellen Befreiung vom Faktischen erlauben Sie es uns nicht, Sie auf die Reise zu begleiten, Sie reißen uns einfach mit, in einer Brutalität, die ihresgleichen nur in den Dante’schen Höllen zu finden vermag. Doch die Iden des März sind noch nicht gekommen, und so wollen wir der Neugier freien Lauf lassen: Sind wir die Werkzeuge eines Herrn oder die Sklaven unseres Ichs? Sind Götter zum Verlieben da? Wird Ewigkeit überschätzt? Das sind die Fragen, die in uns allen brennen, die uns im Schlaf heimsuchen und hinterrücks anfallen. Das für das Auge Endliche ist letzten Endes doch immer nur unendlich, und so möchte ich beinahe sagen: Sehet, ihr Narren, sehet das Namenlose, wie es ausbricht, das sophistische Stakkato des Sich-Entfremdens, wie es unser habhaft wird und es schreit, ja, es schreit, schreit hinaus: Pingpong o Halleluja Pingpong!«
»Bravo!«
Tule war begeistert und klatschte freimütig in die schlanken Dichterhände. Sonst klatschte niemand. Selbst Kyell nicht, nicht einmal aus Freundschaft. Augenbrauen wurden hochgezogen, wahllos Bäume angestarrt und stoisch in die Luft geprustet. Arne tupfte sich die kleinen Schweißperlen von der Stirn, die Zurückhaltung, sie war ihm ein Rätsel, nicht recht zu erklären. Hatte er einen Fehler gemacht, eine falsche Betonung gesetzt, war er zu leise, zu laut, zu exaltiert gewesen? Nein, er war Perfektionist, und diese Laune der Natur, die sich Bürger nannte, war wohl wieder einmal nur mit dem falschen Fuß aufgestanden. Allzu lange ließ er sich von der kleinen Niederlage jedoch nicht beirren. Seine große Stärke war dieses Über-den-Dingen-Stehen, dieses Selbstverständnis, das Zweifel nicht kannte. Und wenn doch einmal die Unsicherheit ihn kleidete, so dauerte es kaum mehr als nur wenige Sekunden, bis er wieder Arne, der Bürgermeister, war, ein Maître de Plaisir für den gehobenen Anspruch.
Fünf Schritte waren es nur, die er in tänzelnder Bewegung auf Gretchen Morgenthau zuging, fünf Schritte nur vom Abgrund entfernt.
Er wollte ihre Wangen küssen. Er hatte sich in Künstler-Begrüßung eingelesen und er glaubte, ein gewisses Talent für derlei Chichi zu haben. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, feuchtete kurz noch seine Lippen an, berührte Gretchen Morgenthau mit beiden Händen an den Armen und beugte sich leicht vor. Er stoppte das Himmelsfahrtkommando erst in dem Moment, als er merkte, dass sowohl Körperspannung als auch Blick der Legende ihm signalisierten, keinen Millimeter weiter in die private Zone vorzudringen, es sei denn, er liebe und kultiviere die lebensmüde Attitüde. Da ihm dieses Ansinnen stets fremd war, beließ er es bei der unvollkommenen Geste und sagte nur: »Ich grüße Sie, liebes Gretchen.«
Gretchen Morgenthau blickte ihn an, als wolle man ihr ein gebrauchtes Taschentuch verkaufen und sagte: »Ich darf doch bitten.«
Arne verstand nicht gleich. Dann überlegte er und gab zu bedenken: »Wir sprechen uns hier alle mit Vornamen an.«
»So nennen Sie mich, wie es auch meine Freunde tun.«
»Gretchen?«
»Meine besten.«
»Gretel?«
»Frau Intendantin.«
Noch bevor Arne tief Luft holen konnte, klopfte Milla ihm auf die Schulter und flüsterte im Geheimen. Der Bürgermeister fasste sich an die Stirn und sagte: »Wie konnte ich das nur vergessen. Liebe Frau Intendantin, auf Hawaii ist es Brauch, die Gäste mit Blumenkränzen willkommen zu heißen, auf Gwynfaer jedoch wollen wir unseren Besuchern mehr anheim geben.« Und dann
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