Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
Vom Netzwerk:
Und sie war damals eine reine Provokation, für die Familie und für die Bürgerwehr. Die Männer lagen ihr zu Füßen, selbst James Dean. Näher kennengelernt hatten sie sich auf der Wiese vor der Werkstatt, umgeben von Margeriten und doldigen Milchsternen, alten Reifen und rostigen Bremsen. Sie hatte ein zartgrünes Sommerkleid an, ein selbst geschneidertes mit Spaghettiträgern. Ihre Füße steckten in klobigen Arbeiterschuhen und in ihren Händen hielt sie eine Flasche Bier. Eine selbst gedrehte Zigarette hing in ihrem Mundwinkel, der Rauch kringelte sich zu Nebelschwaden und Hormone irrten zwischen Schweiß und Sonnencreme besinnungslos hin und her. Sie wusste schon früh, wie einfach es war, das schwache Geschlecht gefügig zu machen. Und es gefiel ihr durchaus, wie seine linke Hand durch ihre langen Haare streifte, wie er den Nacken kaum berührte, wie er fester zugriff und ihren Kopf leicht nach hinten zog, wie er sie anschaute, mit diesen kalten blauen Augen, in denen sie die Leere des tumben Verlangens erblickte. Ihr gefiel die Macht. Der Augenblick. Die Wahl. Das Sich-fallen-Lassen. Für einen Augenblick.
    Als sie sich von James Dean trennte, tat sie es mit einer Träne in den Augen und dem lieb gemeinten Ratschlag, er möge sich erhängen. Vorzugsweise Eigenköpfung, für den unwahrscheinlichen Fall, dass er mit Stil abzutreten gedachte. Dabei war sein Vergehen nur ein Lächeln gewesen, eine kleine Unachtsamkeit, ein Reflex, er hatte es nicht einmal böse gemeint, dieses Lächeln, eine spontane Reaktion, als sie in einem romantischen Moment der Zweisamkeit sagte, dass sie eines Tages eine Weltberühmtheit werde.
    Als die Sonne langsam schwächer wurde, ging Gretchen Morgenthau zurück in ihr fremdes Heim. Sie wollte sich noch umziehen, für das Essen, das der Bürgermeister sich nicht nehmen ließ, das er ihr zu Ehren geben wollte. Im ganz kleinen Kreis, verstand sich. Seine Frau, sagte er, koche, dass Bocuse vor Neid erblasse. Er jedenfalls schlecke sich immer die Finger nach jeder Mahlzeit ab. Dieser Bürgermeister, dachte sie, war ein Klischee. Ein glaubwürdiges. Natürlich. Denn unglaubwürdige Figuren gab es gar nicht, es gab nur dumme Konsumenten. So jedenfalls hatte es ihr Alexander Nikolaj Koroljow beigebracht, ihr erster Lehrer in der freien Wildbahn, ein russischer Regieberserker und hemdsärmeliger Schwerstintellektueller, der in Sankt Petersburg ein dissidentes, antiproletarisches Antitheater leitete. Sie war Mitte zwanzig und hatte es gewagt, Strindbergs Figur der Fräulein Julie als klischeebeladen und unglaubwürdig zu bezeichnen. Keine gute Idee. »Jede reale wie auch erfundene Figur«, hatte er sie angebrüllt, »ist glaubwürdig, egal, was sie macht, sagt oder tut! Hätte man Stalin, Hitler oder Mao erfunden, wäre das Urteil schnell gefällt: unglaubwürdig! Und genau deshalb ist Glaubwürdigkeit völlig irrelevant. Niemand ist authentisch im wahren Sinne. Authentizität ist ein rein künstlicher Begriff. Authentizität ist die Sehnsucht nach ein bisschen Heimat, das Aufwärmbecken des kleinen Mannes, der, geschunden von den Brutalitäten der Welt, nach Hause kommt, und an etwas glauben möchte, das echt ist. Wenn irgend möglich mit Zertifikat. Authentisch ist genau derjenige, der alle Klischees erfüllt. Der ehrliche Samariter, der korrupte Politiker, die Göre mit der frechen Schnauze, das puckelnde Mütterchen und so weiter und so fort. Authentizität ist Kunst. Die Kunst authentisch zu sein. Also künstlich. Heißt: Der Mensch ist ein Klischee. Merk dir das, du dummes Küken.« Hatte sie. Und sie wusste, dass es nur auf die kleinen Brüche ankam, egal wie winzig sie waren.
    Dieses Wissen aber half ihr nicht, sich auf das bevorstehende Abendessen mit dem Klischee zu freuen. Ganz im Gegenteil. Wie, fragte sie sich, wie nur konnte Gott so grausam sein und ihr solch qualvolle Prüfungen auferlegen?

19
    Kyell war nicht sicher, wie er die nächsten vier Wochen überleben sollte. Persönlicher Assistent. Wie das schon klang. Es war Arnes Idee. Nicht seine. Er wäre nie auf so eine Idee gekommen. Auch wenn er einsehen musste, dass die Berufung zum Tierarzt nicht im Geringsten mit seinen Fähigkeiten harmonierte. Er musste etwas Neues ausprobieren. Sicher. Aber war es wirklich nötig, gleich zweimal hintereinander in eiskaltes Wasser gestoßen zu werden? Persönlicher Assistent. Bürgermeister Arne hatte ihn berufen, da Kyell ein so umgänglicher und ruhiger Mensch sei, der sich mit

Weitere Kostenlose Bücher