Gretchen
mit einem breiten und rosigen Lächeln anschauten, dann wussten die Einwohner, dass Gretchen Morgenthau wusste, dass sie wussten, dass sie weiß, dass man sie hier als Fremdkörper betrachtete, und es schien ihnen regelrecht Freude zu bereiten, dieses Spiel. Nur ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und weißem Kleidchen, das sagte, es sei eine Elfe, spazierte selbstbewusst und ohne jede Scheu auf sie zu, legte ihr fünf Glasperlen in die Hand und sagte, dass sie für jede Perle einen Wunsch frei habe und gut darauf aufpassen solle. Gretchen Morgenthau war gerührt und hielt nach einem Mülleimer Ausschau. Auch schien ihr angeborener Charme und ihre einnehmende Art auf dieser Insel nicht recht wirken zu wollen. In einer Krämerei, die sich Internationaler Kolonialwarenladen nannte, stöberte sie gelangweilt in der Auslage herum, bis sie plötzlich einen ockerfarbenen Vikunja-Schal entdeckte, die teuerste Wolle der Welt. Es stand kein Preis dran. Er lag in der Nähe der 99-Cent-Abtropfsiebe. Da sie ihre Geldbörse vergessen hatte, fragte sie den Ladenbesitzer, einen untersetzten alten Mann, ob sie das schnöde Tuch mit einem Lächeln bezahlen könne. Der Ladenbesitzer lächelte und sagte nein. Als sie ihm fünf Glasperlen zum Tausch anbot und auf das Blingbling der Murmeln aufmerksam machte, mit denen er bei seinen Stammesbrüdern und -Schwestern großen Eindruck hinterlassen könne, da blieb nicht nur die erwartete Begeisterung aus, nein, sie wurde kurzerhand mit allerlei Nettigkeiten hinauskomplimentiert.
Ihre ersten Gespräche mit den Einheimischen entpuppten sich als ebenso kompliziert. Am Morgen auf dem Weg zum Hafen hatte sie Tykwer getroffen, den Tierarzt. Er saß ein wenig desorientiert auf einem Schemel und nestelte mit fiebrigen Fingern imaginäre Flugwesen hinfort. Dazu summte er eine schrägschaurige Heimatmelodie für Zurückgebliebene vor sich hin.
»Guten Tag«, sagte Gretchen Morgenthau der Form halber.
Tykwer schaute irritiert hinauf. Er brauchte einige Sekunden, um die Information zu verarbeiten und mit der, wie er annahm, natürlichen Replik zu erwidern: »Haben Sie meinen Penis gesehen? Ich kann ihn nicht mehr finden.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Dann muss der rote Tornister ihn haben. Dieses Schwein. Polenta! Hinfort, fort, fort, ihr grausamen Kidneybohnen. Eine Runde Kammerflimmern. Umsonst natürlich. Nennt mich Benway. Nennt mich Benway!«
Gretchen Morgenthau war gesättigt an Konversation und sagte: »Lebt wohl, Mr. Benway.«
»Wartet! Wartet! Wir wollen doch noch Campher inhalieren. Oder habt Ihr zufällig Morphium dabei?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich bevorzuge Tee.«
»Sind Sie krank?«
»Sind Sie drogensüchtig?«
Tykwer schaute verwirrt nach links und nach rechts, die Frage kam ihm spanisch vor, einem weißen Schimmel gleich. »Ja, natürlich. Ich bin Arzt.«
»Dann muss ich mir also keine Sorgen um Sie machen?«
»Nein, selbstverständlich nicht! Oder?«
»Das war nur eine rhetorische Frage. Einen schönen Tag noch.«
Sie war unschlüssig, ob sie sich darüber freuen sollte, dass auf dieser Insel nicht nur herzallerliebste Ponyhofbewohner, sondern auch Versehrte und Verrückte von seltener Qualität anzutreffen waren. Sie entschied sich dafür, dass Freude keine angemessene Emotion für ihr exilantes Dilemma war. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie fühlen, wie Ovid und Dante sich gefühlt haben mussten, ein Martyrium des reinen Schreckens, so eine Verbannung. Und vier Wochen konnten eine sehr lange Zeit werden. Sie hatte Beziehungen geführt, die weitaus kürzer waren. Insbesondere solche, in denen sie ewige Liebe versprach, die in der Regel selten länger als drei Tage dauerte. Es lag nie an ihr. Männer konnten so fürchterlich anhänglich sein. So grenzenlos naiv. So dumm. Ihre längste Beziehung hielt genau ein Jahr und einen Tag lang. Sie war 19 und hatte sich James Dean geangelt. James Dean hieß zwar Wolfgang und war ein Mechaniker mit zweifelhaftem Ruf und legasthenischer Aura, aber das war nebensächlich, denn alle Mädchen nannten ihn nur James Dean, und das war alles, was zählte. Sie verliebte sich in seine Augen, seine Hände und seine Haare. Die inneren Werte konnte sie ja nicht sehen. Seine Anziehungskraft aber wuchs noch mit der Drohung ihres Vater, dass er sie enterben werde, so sie mit dem Schrauber durchzubrennen gedenke. Sie hatte eine Schwäche für Rebellion. Schon immer. Es gab kaum etwas in ihrem Leben, das ihr mehr Spaß bereitete.
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