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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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drehte er sich um und zauberte einen mit Helium gefüllten Luftballon hervor. »Hiermit überreiche ich Ihnen den Mond. Er möge Sie umkreisen, Ihre Rotation zügeln und für regelmäßige Gezeiten sorgen. In dunklen Nächten möge er Ihr Licht sein, er soll Sie von nun an begleiten, auf all Ihren Wegen, wo auch immer Sie weilen. Der Mond ist unser aller Leben Manna, er symbolisiert die Jungfrau, die Mutter und die Greisin. Und welcher Trabant könnte Ihnen wohl mehr gerecht werden als der Mond?«
    Was redete der Eingeborene? Gretchen Morgenthau war keins von alledem. Sie war eine Frau in den besten Jahren, weder Jungfrau noch Mutter und beileibe keine Greisin. Und dann übergab ihr dieses kümmerliche Häufchen Mensch den Heliumballon, den Mond, die alte Dame. Gretchen Morgenthau schaute auf die Kordel in ihrer Hand, hinauf auf den Mond und schließlich in des Bürgermeisters Augen. Sie war keineswegs amüsiert. Sie war die Ruhe selbst. Kein gutes Zeichen. Und dann öffnete sie den Spalt zwischen Zeigefinger und Daumen und der wunderschöne Mond schwebte gen Himmel empor, weit hinfort, und Gretchen Morgenthau sagte: »Ups.«

18
    Die Insel war ein Fremdkörper. In Gretchen Morgenthaus Welt. Ein Geschwür, das mit jedem Schritt, den sie tat, wuchs. Das Liebliche war ihr keine Freude, es war ihr ein Gräuel. Sie teilte das alttestamentarische Faible ihrer Generation für Buttercreme nicht, und nun stand sie knietief in der Glucose. Dabei wollte sie nie an einer Überdosis Zucker sterben, nicht einmal intravenös. Gewiss, der gemeine Weltreisende hätte längst seine Entdeckung in Ton und Bild dokumentiert, er hätte gurrend vor Wonne ein Hosianna ausgerufen und sich keusch wie auch keuchend auf die Schulter geklopft. Gretchen Morgenthau indes hätte sich gerne übergeben, denn der gesunde Menschenverstand machte sie krank. Sie war nur überrascht, dass die Insel sich keineswegs dem Fortschritt verweigerte, dass sie ganz im Gegenteil in Siebenmeilenstiefeln voranschritt. Aber das machte die Sache auch nicht besser. Es gab keine Autos und keinen Fluglärm, es pulsierten erneuerbare Energien und die Luft war von solcher Reinheit, dass ihre Atmungsorgane ständig zu kollabieren drohten. Die Vernunft schien im Siegestaumel zu hyperventilieren, kein schöner Anblick, dachte sie, wenn die Natur ihr wahres Gesicht zeigt.
    Man hatte ihr ein kleines Gasthaus für die Zeit ihres Aufenthalts zur Verfügung gestellt. Das rote Gestein mit dem schuppigen Schieferdach lag direkt am Meer und war von knuspernder Lieblichkeit befallen. Wein und Efeu rankten empor und boten multikulturelle Nistplätze für ganze Völker von Ungeziefer. Im Innern dominierten herbstliche Farben von Grün über Gelb bis Rot und Braun, die im Sonnenlicht voller Wärme schimmerten und das landlustige Ambiente schamlos inszenierten. Die Entzückung war allenthalben greifbar, sie schrieb sich fort, mit jedem Detail, das sichtbar wurde. Klobige Lederelemente und spartanische Kunst zierten den Wohnraum, in dem die Gemütlichkeit sich tapfer erbrach. In einem hölzernen Bücherregal standen und lagen die Klassiker der Weltliteratur, aufgereiht wie Mahnmale an eine fast vergessene Zeit. Auf einem Sekretär aus jungfräulicher Epoche thronte eine alte Underwood-Schreibmaschine, in die ein leeres Blatt eingelegt war. Bildungsbürgerliche Insignien, so weit das Auge reichte, kein Erbarmen, nirgends. Die zentrale Wohnküche war gusseisern eingerichtet, Töpfe und Pfannen hingen kupfern und messingbeschlagen von der Decke und es roch nach Wehmut und Fisch.
    Um die Menschen näher beobachten zu können, musste sie in die freie Wildbahn, dort, wo Zecken, Mücken und Enten ihr schändliches Unwesen trieben. Insulaner, so wusste sie aus leidvoller Erfahrung, waren eine ganz eigene Spezies, nicht leicht zu durchschauen, schwer zu manipulieren. Der erste, den sie sah, war ein alter Mann auf einem Hügelkamm, der in weiter Ferne einen Bollerwagen hinter sich herzog, in dem nur eine Decke lag. Dem alten, gebeugten Mann musste Schreckliches widerfahren sein, er sah aus wie der traurigste Mensch der Welt. Der Großteil der Einwohner aber schien aus biologischem Anbau zu sein, so gesundgesichtig wandelten sie umher, als wären Karotten und Ingwer ihr täglich Brot. Ihr Benehmen war von höflicher Distanz. Sie nickten ihr offen und freundlich zu, bis sie ihren Rücken zeigte, und wenn sie sich dann plötzlich umdrehte und das Tuscheln sofort erstarb, und wenn die Einwohner sie dann

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