Gretchen
schwierigen Zeitgenossen bestens auskenne. Und Tule kürte er kurzerhand zum Regieassistenten und Dramaturgen in einer Person, wo er doch pausenlos von seiner künstlerischen Ader sprach, die immer wieder nach neuem Stoff gierte, die er nur intravenös zu befriedigen wusste. In den letzten Wochen war Tule kaum ansprechbar gewesen, er las alles, was er übers Theater finden konnte, Biografien, Sachbücher, Romane, alles. Dabei war er schon längst ein Experte. Qua Erfahrung. Allein in den letzten drei Jahren ging er bei der Weihnachtsaufführung stets federführend zu Werke. Endlose künstlerische Diskussionen und wütende Fehden mit Englisch- und Theaterlehrer Magnus waren die Folge. Er war also prädestiniert für diese Aufgabe. Kyell für die seine nicht. In trüben Momenten hatte er an so etwas wie Bühnenbau gedacht. Auch wenn er keine handwerklichen Fähigkeiten besaß, so mochte er doch diesen Werkzeuggürtel immer sehr gerne. Und einen Tisch oder einen Stuhl bauen, das hatte er sich vorstellen können, mit ein wenig Hilfe. Aber persönlicher Assistent? Das klang nicht gut. Auch hinterließ diese Frau keinen umgänglichen oder gar sympathischen Eindruck. Sie sah zwar mit ihren langen grauen Haaren und der grazilen Figur wie eine weise, alte Heilige aus, benahm sich aber nicht so. Kyell sollte sie begleiten, wann immer sie wollte, ihr alles zeigen und erklären und all ihre Wünsche von den Augen ablesen. Bisher war das mit dem Lesen eine heikle Angelegenheit. Für den Bruchteil einer Sekunde wagte er den direkten Blick. Aber er konnte in ihren Augen keinerlei Wünsche erkennen. Vielleicht Feindseligkeit. Ja. Aber Wünsche? Nein. Und so blickte er weiterhin auf seinen Teller, auf dem die zu trockene Scholle und der zu pampige Kartoffelstampf seinen Appetit zügelten.
Kyell saß direkt neben Gretchen Morgenthau, die auch neben Arne saß, der am Kopfende das Diner dirigierte. Neben ihm seine Frau Frauke, daneben des Bürgermeisters Tochter Milla, die zu ihrer Rechten Tule sitzen hatte. Lehrer Magnus saß gegenüber Arne, nebst Gattin Pernille Matilde, die Einzige auf ganz Gwynfaer, die einen Doppelvornamen ihr Eigen nannte und auch noch stolz darauf war. Die Gespräche verliefen mühsam, mau und fern von jeglicher Inspiration. Die Themen fanden schnell ein Ende, kaum, dass sie angeschnitten wurden.
»Und, wie schmeckt Ihnen der Fisch?«, fragte Arne.
»Ausgezeichnet«, sagte Gretchen Morgenthau. »Ich stelle ihn mir einfach als zartes Rindersteak vor. Kobe. Selbstverständlich.«
»Wir essen hier eigentlich nur sehr selten Tiere«, gab Arne zu bedenken, »abgesehen von Fischen. Bei großen Festen werden schon mal ein paar Hühner geköpft. Rinder gibt es auf der ganzen Insel keine, und Schweine sind bei uns nur Kompostmaschinen. Die schlachtet keiner.«
»Doch«, sagte Tule, »die Schotten, die stechen alles ab. Was mich, werte Intendantin, unweigerlich zu folgender Frage führt: Welches Stück werden wir eigentlich inszenieren?«
Wir? Gretchen Morgenthau war überrascht. Sie nippte an ihrem zu kalten Sauvignon Blanc, schaute den mutig vorpreschenden Regieassistenten etwas genauer an und gähnte, während sie ihren Kopf seitlich nach rechts drehte. Sie hatte den Grund für ihren Besuch schon beinahe vergessen. Es war ihr unangenehm, daran erinnert zu werden. Es war wie Aufstoßen beim Liebesspiel. Ein denkbar ungünstiger Start für ihren Regieassistenten.
»Ich würde ja meinen«, sagte Lehrer Magnus, »ohne mich groß einmischen zu wollen, denn Vorschläge zu unterbreiten steht mir selbstverständlich nicht zu, aber fragte man mich, so würde ich Tschechow oder Ibsen für eine gute Wahl halten und letzten Endes zu Peer Gynt tendieren. Der Kirschgarten wäre aber sicherlich auch eine wunderbare Alternative. Verzeiht bitte die Vorwitzigkeit eines alten Narren, er kann nicht anders.«
»Eine interessante Wahl, mein Lieber«, sagte Tule, »eine interessante Wahl, bürgerlich und gut abgehangen. Nichts wagen und immer schön anständig bleiben. Dafür sind wir dir ewig zu Dank verpflichtet, für deine Vorbildfunktion, für deine bodenständige Aufrichtigkeit. Du bist uns allen ein Licht. Immer. Nur dieses Mal ist die Kunst zu Gast, nicht die schöne, sondern die böse, und da wollen wir doch nicht ganz so verklemmt danebenstehen, nicht wahr?«
»Ach, Ibsen und Tschechow stehen verklemmt daneben? Neben wem denn?«, fragte Magnus, der sich steif zurücklehnte, die Arme vor seinem Bauch verschränkte und
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