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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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überhaupt mit Füßen getreten wurde, dann wurde sie unleidlich. Keine fünf Minuten hatte sie mit Fine telefonieren können, bevor die Verbindung abbrach. Sie musste unbedingt mit ihrer besten Freundin reden und mit Elonore und mit Daisy, ihrer Managerin, das nichtsnutzige Ding, mit der sich so trefflich lästern ließ. Sie musste wissen, wie es der Welt ohne sie erging, sie sehnte sich nach Klatsch und Tratsch, nach Gosse und Glamour, nach pulsierendem Leben jenseits von Haferflocken. Doch gerade als ihre Stimmung in den Keller ging und sie in eine tiefe Depression zu driften drohte, fiel ihr Blick auf den jungen Mann zu ihrer Linken, auf ihren persönlichen Assistenten, der noch kein einziges Wort gesagt hatte, der sich verhielt, als sei er eine Pflanze. Sie betrachtete ihn genauer. Schlank war er, von zarter Natur, mit femininen Zügen, zerbrechlich sah er aus und melancholisch und naiv und vielleicht sogar verloren. Ihre Neugier wuchs und sie überlegte, wie sie das scheue Wesen aufschrecken konnte. Dann kam ihr eine Idee.
    »Erzähl mir von dem traurigsten Tag in deinem Leben.«
    Kyell erschrak. Er blickte von seiner Scholle auf. Irritiert. War er gemeint? Das konnte nur ein Missverständnis sein, er betete, es möge ein Missverständnis sein. Und so fragte er zaghaft nach: »Bitte?«
    Alle anderen Gespräche starben.
    »Erzähl mir von dem Tag, den du nie wieder vergessen wirst, der Tag, der erste Narben hinterließ, weil etwas ganz Schlimmes passiert ist. Da muss es doch eine Geschichte geben. Gerne auch etwas mit Mord und Totschlag. Aber bitte, ich möchte nicht vorgreifen.«
    Kyell schluckte. Die Stille wurde immer lauter.
    »Vielleicht …«, mischte Tule sich ein …
    »Nein, nein, jetzt nicht wieder der Pausenclown, ich würde gerne die Stimme des jungen Mannes neben mir hier hören, der mich die nächsten Wochen auf Schritt und Tritt begleiten wird. Ich möchte ihn vorher gerne näher kennenlernen. Der schlimmste Tag?«
    Kyell schaute Gretchen Morgenthau mit unruhigen Augen an. Wie sollte er diese Frage beantworten, die er nicht beantworten wollte, ohne zu lügen, und wie sollte er lügen, wo er doch immerzu die Wahrheit sagte? Er stand kurz vor seiner ersten Panikattacke, von der er sich nicht zu viel versprochen hatte, ganz im Gegenteil, sie schien sogar alle Befürchtungen meilenweit zu übertreffen.
    »Persönlicher Assistent?«
    Er biss sich auf die Unterlippe, zwischen seinen Augen bildete sich eine kleine senkrechte Falte, dabei war er noch viel zu jung für Falten. Er verlagerte das Gewicht auf dem Stuhl von links nach rechts und umgekehrt. Er atmete tief durch. Zweimal. Dann wurde er ruhig. Ganz plötzlich. Der Puls ging zurück und das Herz pochte nicht mehr wie ein höhlender Specht. Selbst die schweißnassen Hände waren plötzlich trocken. Wunder, so stand geschrieben, geschähen aus heiterem Himmel, einfach so. Er starrte auf die Scholle. Aber er sah sie nicht mehr. Und dann fing er, zur Überraschung aller, an zu erzählen.
    »Es war ein Donnerstag. Vor zwei Monaten und vier Tagen. Vormittags. Es war ein schöner Tag, voller Sonne. Und kalt war es. Unter Null Grad. Ich mag kalte und sonnige Tage. Sie sind so direkt, so nah. Ich war mit Tule angeln. Unten in der Heimdall-Bucht. Ich hatte meinen ersten Silberbarren gefangen. Eine Meerforelle. Ein schöner Fisch. Zwanzig Kilogramm war er schwer. Ich konnte ihn kaum tragen. Ich wusste, Großvater würde beeindruckt sein. Wenn er beeindruckt war, hob er immer die rechte Augenbraue ein wenig. Nur für einen kurzen Moment. Man musste genau hinschauen, um es nicht zu verpassen. Er war immer sehr sparsam mit Begeisterung. Und ich war aufgeregt. Auf dem Weg nach Hause bin ich einer Elfe begegnet. Hanna, sie ist schon vier und glaubt immer noch, dass sie fliegen kann. Ich glaube das nicht. Ich glaube, niemand kann fliegen. Die Haustür war auf. Das war sie oft. Das war nicht ungewöhnlich. Jeder war willkommen. Jeder, der sich traute. Es roch nach Basilikum und Zitrone. Und nach noch etwas. Das ich nicht kannte. Es lief Solveig’s Song. Großvater liebte Grieg. Ich mag klassische Musik nicht so gerne. Aber sie stört mich auch nicht. Nur wenn Trompeten mitspielen, dann schon, dann stört mich klassische Musik. Als ich um die Ecke in den Wohnraum ging, lag Großvater auf dem Sofa. Es sah aus, als schliefe er. Auf dem Rücken. Wie immer. Wenn er seinen Mittagsschlaf hielt. Das rote Kissen bedeckte seinen Kopf zur Hälfte. Dabei war das Kissen

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