Gretchen
gespannt wie ein Flitzebogen war.
»Ich bin nicht gegen Klassiker, ich bin nur dagegen, Klassiker klassisch zu inszenieren. Nur wer die Formen misshandelt und zerstört, sichert auch gleichzeitig ihr Fortleben, wie Artaud schon sagte. Ich denke an ein Theater, das respektlos und progressiv ist, das sich selbst erfindet, sich selbst herausfordert, im ständigen Passieren scheitert und wieder aufersteht. Ich denke in erster Linie an Mut. Ich denke an Needcompany, Forced Entertainment und Wooster Group, ich denke an Rimini Protokoll, Bikini Schrott und Complicite, ich denke an Wirrwarr, an Ereignis und an Holterdiepolter, ich denke an weit mehr, als uns geweissagt wird.«
»Das hatten wir doch schon alles in der Theater-AG. Aber ich verstehe. Aus dir spricht die Jugend, du willst verständlicherweise zerstören, denn Testosteron und Adrenalin sind deine Ratgeber, aber glaube mir, Neumodernes bürgt nicht für Qualität, es gaukelt sie in der Regel nur vor.«
»Ich glaube nicht, dass Fantasie eine Frage des Alters ist, mein Lieber.«
»Natürlich nicht, die Gabe zur Vernunft indes schon. Und nenn mich bitte nicht immer Mein Lieber. Ich bin nicht dein Lieber. Und außerdem wird, so weit mir bekannt, die Frau Intendantin und nicht der Herr Regieassistent entscheiden, welches Stück gespielt wird.«
»Selbstverständlich wird das die Frau Intendantin entscheiden, selbstverständlich«, sagte Tule und fügte noch hinzu: »Mein Lieber.« Dann drehte er sich zu Gretchen Morgenthau um, die dem kleinen Disput nur mäßiges Interesse zollte und fragte: »Nun, Frau Intendantin, was meinen Sie? Wohin wird die Reise gehen? Zugespitzt: Ibsen oder Wooster? Sie kennen doch die Wooster Group, oder?«
Das war frech. Sie überlegte, seinen Kopf in einen Trog voll Salzsäure zu tunken, um zu sehen, was passiert. Es konnte ja nur klüger werden, das dumme Ding. Sie war ganz und gar nicht amüsiert, dass sie nachdenken musste, nachdenken, welches Stück sie hier inszenieren sollte. Sie hatte es nicht verdrängt, sie hatte es ganz bewusst ignoriert. Ihre Zeit war einfach zu kostbar, um sie mit Nichtigkeiten zu vertrödeln. Und nun fragte sie ein vorlauter Wald- und Wiesenkasper auch noch, welcher Schule sie sich zugehörig fühlte. Wie despektierlich. Ihrer eigenen natürlich. Und was war das überhaupt für ein kruder Vergleich? Ibsen oder Wooster. Nichts schließt sich aus. Sie tänzelte auf allen Ebenen zwischen Klassik und Moderne hin und her, nahm von hier und dort, wie es eben passte, für das Stück, für die Idee, für die Welt. Sie mochte Ibsen. Zumindest hatte sie nichts groß gegen ihn. Warum also nicht Peer Gynt? Sie hatte ihn vor über zehn Jahren am Royal Court Theatre inszeniert. Sehr reduziert, viel gestrichen. Damals war es ein Erfolg, mindestens sieben oder acht Vorhänge. Es hatte alles gepasst, das reduzierte Bühnenbild voller Zwiebeln, die Monk’sche Komposition und die großartigen Schauspieler. Sie würde es noch ein wenig vereinfachen, damit sie die Barbaren halbwegs durchbringen konnte. Ihr schauderte bei der Vorstellung von Laienschauspielern. So sehr, dass sie kurz an Stifters Dinge dachte, an ein Theater ohne Menschen. Vielleicht war es auch einfach an der Zeit für die Übermarionette.
»Ich denke, Peer Gynt ist eine gute Wahl.«
Magnus lächelte und schämte sich sogleich für seinen Triumphausbruch. Er mochte es nicht, wenn er so emotional war, so unbeherrscht, wenn er die Kontrolle über sich verlor, das war er einfach nicht.
»Peer Gynt?«, fragte Tule. »Ich dachte, Sie wären eine Partisanin und eine Visionärin. Ich bin ehrlich gesagt ein wenig enttäuscht.«
Gretchen Morgenthau interessierte sich nicht für die Enttäuschungen eines Regieassistenten, sie hörte nicht mehr zu, sie schaltete um. Sie ließ sich vom wieselnden Bürgermeister ein viertes Glas des mäßigen Weins einschenken und tagträumte von einem kleinen Einkaufsbummel, von Dover Street Market, Jermyn Street und Selfridges. Außerdem hatte sie ganz andere Sorgen, existenzielle Sorgen. Zum einen große Bauchschmerzen und zum anderen den katastrophalen Empfang. Für das Handtelefon. Wenn es überhaupt etwas gab, das Gretchen Morgenthau stolz auf die Menschheit machte, dann war es die Erfindung des Telefons. Nie wurde Größeres vollbracht. Sie benutzte es in der Regel mehrere Stunden täglich, sie nahm es immer und überallhin mit, es war heilig, ohne Wenn und Aber. Sie liebte telefonieren. Und wenn das wichtigste Grundrecht
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