Gretchen
Arrangement. Mehr nicht.
Die Wege, die sie gingen, waren sorgsam angelegt und der regelmäßigen Pflege unterworfen. Doch keine zwei Meter abseits des Weges wucherte die Wildnis in unkontrollierter Ekstase kreuz und quer. Ungeziefer zirpelte und krauschelte durchs Unterholz, dass es eine wahre Freude war. Für Entomologen. Schade nur, dachte Gretchen Morgenthau, dass ihr die Insektenforschung jetzt nicht so viel gab. Den Vorschlag, Beeren und Kräuter zu sammeln, kommentierte sie nur mit einem kläglichen Seufzen. Viel zu entdecken gab es nicht, weder ein verwegen geheimes Sternerestaurant noch einen Prada-Flagship-Store. Als sie an einer kleinen Bucht vorbeikamen, in der ein rotes Ruderboot an einem Holzpflock angeleint war, erzählte Kyell, dass es auf Gwynfaer keinen Friedhof gäbe, dass die Toten auf einem Boot aufgebahrt und dann aufs offene Meer hinausgezogen werden. Und manchmal, so sagte er, gäbe es auch Menschen, die selbst hinausrudern, wenn sie wissen, dass ihre Zeit gekommen ist. Ein hübscher Brauch, dachte Gretchen Morgenthau, kitschig, gewiss, aber hübsch. Sie hatte selbst einmal gerudert. Als sie noch studierte. Mit ihren Freundinnen hatte sie einen Frauenachter gegründet. Mehr aus Langeweile denn aus sportlichem Ehrgeiz, und eigentlich auch nur, weil man es ihnen verboten hatte. Damals. Doch gerade als sie in vergangenen Zeiten zu ertrinken drohte, spürte sie einen kalten Lufthauch in ihrem Nacken. Sie drehte sich um, und da stand plötzlich ein Greis in einem schwarzen Cape vor ihr, der, auf einen knorrigen Gehstock gestützt, schlechten Atem versprühte. Seine Augen funkelten smaragdgrün und seine fahle Haut leuchtete für einen kurzen Moment ganz rosig, als er sagte: »Ich habe die Sehnsucht in den Augen der Menschen gesehen. Die Atlanten eurer Gesellschaft werden bald einbrechen. Eure Welt wird untergehen! Und bringen Sie das nächste Mal gefälligst den Obolus mit!« Dann drehte sich die Finsterheit um und ging wieder ihres Weges. Der persönliche Assistent schien nicht im Geringsten überrascht. Gretchen Morgenthau indes war überzeugt, dass etwas mit dem Trinkwasser nicht stimmen konnte. Irgendjemand musste es verseucht haben, es gab keine andere Erklärung.
»Wer war das?«, fragte sie.
»Norahc. Er baut die roten Boote. Seit ich denken kann. Tule nennt ihn immer Gollum. Ich weiß auch nicht, warum.«
»Gibt es hier eigentlich keine normalen Menschen?«
»Normale Menschen?«
»Ja, so wie mich.«
Kyell starrte sie mehrere Sekunden lang an und sagte: »Ich glaube nicht.«
Gretchen Morgenthau glaubte, eine versteckte Spitze in der Antwort heraushören zu können, doch noch bevor sie sich rechtschaffen echauffieren konnte, flogen ihre Gedanken schon wieder in eine neue Gegend.
»Wie heißt noch mal der andere Fauxpas, der morgen das Vorsprechen organisieren wird?«
»Tule?«
»Wie auch immer. Ich habe das Theater noch gar nicht gesehen.«
»Nun ja, Theater. Es ist unsere Gemeindehalle.«
»Gemeindehalle? Das klingt klein.«
»Oh, nein, sie ist nicht klein. Manche sagen, sie sei das Werk eines Größenwahnsinnigen. Sie bietet Platz für 300 Zuschauer.«
»300? Doch so viele.«
»Ja. Proportional gesehen, sagt Tule, haben wir die größte Gemeindehalle der Welt. Hätte Tokyo eine vergleichbare Gemeindehalle, müssten dort 1,2 Millionen Menschen Platz finden.«
»Mit Fotoapparaten.«
»Bitte?«
»Klick. Führ mich dort hin.«
Die Gemeindehalle lag etwas außerhalb. Einen fast zehnminütigen Gewaltmarsch mussten sie auf sich nehmen, gegen Trolle sich wehren und Wegelagerer erschlagen. Als sie den zweiten Hügelkamm überquerten, konnte Gretchen Morgenthau sie aus der Ferne schon sehen. Sie lag leicht versteckt, von Bäumen umgarnt am Ende eines kleinen Hanges, der steil ins Meer hinabfiel. Überraschenderweise sah der runde hölzerne Bau keineswegs wie eine Gemeindehalle aus. Er erinnerte sie an das Globe Theatre. Kleiner war er. Und auch kein Fachwerk. Er war schwarz. Ungewöhnlich schwarz für diese sonst so farbenfrohe Insel. Das Schockierende war: Er hatte nahezu Stil. Von außen. Im Innern sah es aus wie Zeitreise. Es gab zwei überdachte Stockwerke und einen offenen Innenraum. Auch die Bühne war überdacht, eine statische Holzkonstruktion, die bis in den Zuschauerraum hineinreichte und die eigentlich viel zu groß für das kleine Theater war. Die umlaufenden Galerien waren in kleine Boxen aufgeteilt, in denen bis zu acht Zuschauer Platz fanden. Es waren die besseren
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