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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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eigentlich weiß. Die grauen Haare zauselten kreuz und quer. Eine Fliege schwirrte im Kreis und landete in Großvaters Bart. Auf seinem Bauch lag Dante. Die Göttliche Komödie. Ich kann sie beinahe auswendig, so oft hat er aus ihr vorgelesen. Ich mag die Terrassen des Läuterungsberges. Ich mag Hoffnung. Auch wenn Großvater immer lachte, bei einem Wort wie Hoffnung, so laut, dass die Wände zitterten, vor Angst. Großvater besaß ein Schrotgewehr. Für alle Fälle, sagte er immer. Falls der Russe kommt. Oder der Deutsche. Ich weiß nicht, was er damit meinte. Ich weiß nur, dass ich es nie mochte, wenn Großvater aus dem Fenster schaute, wenn er sagte, dass niemand das Verlieren mag, weil Bleiben dann nur noch Erinnern ist. Ich mochte seine Sehnsucht nicht. Tule sagt immer, Großvater sei der Kurt Cobain von Gwynfaer. Ich weiß nicht, wer Kurt Cobain ist, und es ist mir auch egal. Ich weiß nur, dass meine Beine plötzlich schwer wurden und dass ich das Kissen weggenommen habe, und dass ich mich umdrehen musste, und dass ich auf den Boden gebrochen habe, auf die alten Holzdielen, die immer sauber und poliert sein mussten, und dann bin ich raus, und dann habe ich die Bilder aus meinem Kopf geschnitten und sie weggeworfen, und dann habe ich mich auf die Veranda gesetzt und gewartet, und ich weiß nicht, auf was ich gewartet habe, ich weiß nur, dass ich keine Gedanken mehr hatte, sie waren alle weg, nur ein leerer Raum, wie von einem Radiergummi bereinigt, und dann habe ich in die Sonne geschaut, und dann konnte ich nichts mehr sehen, nur noch diese bunten Punkte, und dann wollte ich Worte finden, für mich, und das machte mich dann wütend, weil ich keine finden konnte, weil nur dieses Gefühl da war, das keinen Namen hat, und das mich völlig eingenommen hat, und dann bin ich müde geworden und dann weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich das nie gesagt, aber ich mochte meinen Großvater sehr, er war mein bester Freund. Ich glaube, das war der traurigste Tag in meinem Leben.«
    Und dann stand Kyell auf, drehte sich um und ging.
    Gretchen Morgenthau blickte alle Übriggebliebenen mit zufriedener Miene an, die Stimmung war dahin, sie lächelte zart, sie war noch in Form, ohne jeden Zweifel, und so fragte sie: »Was gibt es denn Leckeres zum Nachtisch?«

20
    Der Himmel strahlte in seinem schönsten Blau, ganz so, als wolle er noch ausgehen. Eine kleine Wolke schieierte träge von links nach rechts. Sie schien sich verflogen zu haben, und es sah nicht so aus, als würde sie jemals groß und stark werden. Es war des Bürgermeisters Idee, einen weiteren Tag lang die Insel zu erkunden, zu akklimatisieren und »heimisch zu werden.« Warum nicht, dachte Gretchen Morgenthau, was sollte sie auch sonst tun. Das Telefon funktionierte nach wie vor nur, wenn der Wind günstig stand, und selbst dann nur für einige wenige Sekunden, und einen Golfplatz gab es auch nicht, was ein Drama war, denn zum ersten Mal in ihrem Leben verspürte sie das dringende Bedürfnis, Golf zu spielen. So blieb nur die nackte Natur. Sie hatte für die Wanderung ein schlichtes grünes Kleid von Lanvin übergezogen. Dazu trug sie schwarze Sandalen von Valentino, die sich dank eines zehn Zentimeter hohen Keilabsatzes hervorragend für ein raues und unwegsames Gelände eigneten. Der schwarze Hut mit breiter Krempe von Philip Treacy war als Schutzschild gegen die tödlichen Strahlen der Sonne gedacht. In ihrer Falabella Bag hatte sie alle notwenigen Utensilien verstaut, um in der Wildnis auch unter widrigsten Umständen mehrere Wochen überleben zu können: Lippenstift, Eyeliner, Puder, Spiegel, Bürste, Mundspray, Taschentücher, Kreditkarten, Hustenbonbons, Schmerztabletten und fünf Zentiliter Wodka, Russian Imperia, ihre Lieblingsmarke. Sie fühlte sich bestens vorbereitet für einen kleinen Gewaltmarsch, wohin und wie weit auch immer. Der Gefahr wollte sie nicht aus dem Wege gehen, ganz im Gegenteil, so dachte sie, ein Rudel Wölfe käme ihr gerade recht. Ihr persönlicher Assistent war an ihrer Seite, um sie zu begleiten, um ihr bei Interesse Tradition und Geschichte der Insel näherzubringen. Die Katharsis, so schien es, hatte er gut überstanden, nichts deutete auf Vergeltung hin, kein Messer, keine Axt, kein Maschinengewehr, nichts. Besondere Freude war allerdings auch nicht auszumachen. Seine Aufgabe nahm er mit stoischer Gleichmut hin, seine Körperhaltung signalisierte in aller Deutlichkeit, dass von Hingabe nie die Rede war. Es war ein

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