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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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einen Hauch zu kurz, elegant und unverschämt zugleich. Dazu trug sie schwarze Pumps ohne Namen und die weiße Perlenkette ihrer Mutter. Die Männer hatten gerade erst angefangen ihr hinterherzuschauen, die jungen und die alten, und sie riefen auch nicht mehr Bohnenstange oder Lulatschki, ganz im Gegenteil, man begegnete ihr mit ausgesuchter Höflichkeit und merkwürdig interessierten Blicken. Sie genoss diese Aufmerksamkeit. Sie war in den letzten Zügen ihrer Pubertät, groß gewachsen, dünn und von androgyner Seltsamkeit. Lolita war gegen sie nur Pumpernickel. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich dramatisch. Ein merkwürdiges Gefühl, es kribbelte überall, sie war unsicher, und es kostete all ihre Kraft, das nicht zu zeigen. Sie war fasziniert von der Atmosphäre, dem Lärm, dem Gedränge, den flüchtigen Berührungen, den fremden Gerüchen und merkwürdigen Stimmen. Sie beobachtete, wie Frauen sich verhielten, wie sie mit dem Körper sprachen, wie und warum sie lachten, wann sie devot und wann sie überlegen waren, sie speicherte alles, jede Handbewegung, jedes Kopfnicken, jedes kleinste Detail. Wer weiß, dachte sie damals, wofür man es eines Tages gebrauchen konnte. Parkett Rechts, Reihe 10, Sitz 7 war ihr Platz. Der einzige, den sie sich merken konnte, für immer. Das Stück interessierte sie nicht groß, zu altehrwürdig, zu viel Pathos. Als König Ottokar auf dem Schlachtfeld monologte, da musste sie ständig kichern, dabei war es ernst, es war ja ein Trauerspiel. Für Gretchen aber war es nur Beiwerk, sie schaute hin, sie hörte zu, aber sie verstand nicht viel, ihre Gedanken wüteten, manisch, epileptisch, taumelnd. Wochen brauchte sie, um alles zu verarbeiten, um zu realisieren, dass sie nie wieder ein Kind sein würde oder vielleicht auch für immer. Es war alles so verwirrend. Erst nach dem vierten oder fünften Theaterbesuch begann ihr Interesse für das Theater selbst. Sie hörte den Stimmen zu, die so künstlich klangen, und schaute die Körper an, die so gelenkig wirbelten, und sie fing an zu begreifen, warum diese Menschen all das taten. Und mit jedem Besuch tauchte sie mehr hinein, in jede neue Welt, die man ihr zu Füßen warf, sie fing an, zu unterscheiden, zu beurteilen, heftig zu kritisieren und enthusiastisch zu loben. Die Realität war ruiniert, für immer.
    Und dann fasste sie einen Entschluss, einen unwiederbringlichen, ein Wahnsinn war das, sicher, aber warum sollte sie nicht noch einmal etwas Verrücktes machen, noch einmal den Pöbel begeistern, noch einmal Gott spielen?
    »Trommle bitte alle zusammen.«
    Kyell erschrak. Es war so wunderschön, so wunderschön ruhig, er war eingedöst, und jetzt hatte er etwas verpasst, und er wusste nicht, was.
    »Persönlicher Assistent? Aufwachen. Trommle alle zusammen!«
    »Wen?«
    »Na, die Masken- und Kostümbildner, Tonmeister, Beleuchter, Dramaturgen, Souffleure und auch die ganzen Handwerker, also Schneider, Schreiner, Schlosser, einfach alle, husch, husch. Ich möchte eine Begrüßungsrede halten.« *
    Kyell überlegte kurz und sagte: »Ich könnte Malte Bescheid sagen.«
    »Malte?«
    »Dem Hausmeister.«
    »Was soll das heißen?«
    »Dass ich Malte Bescheid sagen könnte. Und seinen Bühnenhelfern Erik und Torben.«
    Malte.
    Er konnte Malte Bescheid sagen.
    Und seinen Bühnenhelfern Erik und Torben.
    Natürlich.
    Gretchen Morgenthau ärgerte sich über ihren flüchtigen Anflug von Euphorie, sie ärgerte sich, dass sie für einen kurzen Moment angenommen hatte, diese Reise könnte einen romantischen Moment haben, dass sie schwach geworden war. Malte, der Hausmeister. Wer auch sonst. Sie winkte mit einer Handbewegung ab, stand auf und ließ den leeren Stuhl einfach stehen. Sie brauchte jetzt etwas Starkes. Alkohol. Ab vierzig Prozent aufwärts.

21
    Schlecht geschlafen. Ganz schlecht geschlafen. Obgleich die Matratze hart und die Daunenkissen weich waren. Aber diese fürchterliche Ruhe, die in ihrem Kopf so aufdringlich lärmte, raubte ihr jeglichen Frieden. Nicht einmal der mittelmäßige Rotwein hatte ihr helfen können. Im Bad fiel sie wie jeden Morgen kurzzeitig in Ohnmacht, als sie ihr Abbild im Spiegel betrachtete. Eine knappe Stunde würde sie benötigen, um die gröbsten Schäden wieder auszugleichen. Es wurde nicht leichter. Nein, wahrlich nicht. Aber sie dachte nicht mehr so oft über das Altern nach. Das physische. Sie hatte sich damit mehr oder minder abgefunden. Als sie mit Anfang 40 bemerkte, dass sie tatsächlich

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