Gretchen
Redehoheit ihrem Regieassistenten und betete, die Welt möge bald untergehen. Das alles war so unfassbar weit unter ihrer Würde, dass sie nicht einmal laut werden wollte, sie wollte einfach gar nichts sagen, und das war krank, gar nichts sagen zu wollen, das war unfassbar krank. Sie blätterte ein wenig in ihren Erinnerungen zurück, zu dem Tag, als sie bei einem Lagerverkauf in Antwerpen zwei Valentino-Abendkleider zum Preis einer Weltreise ergatterte und ihr Glück kaum fassen konnte. Solche Momente der Freude waren rar gesät in einem Leben voller Entbehrungen.
Ihre Laune besserte sich, das Vorsprechen indes nicht.
Tule ließ alle spüren, dass nun er das Zepter der Macht in Händen hielt. Er benahm sich wie ein Viech. Aus Rind. Jedem gegenüber, der es wagte, vorstellig zu werden, der ein Leben auf weltlichen Brettern erträumte, von einem Schluck Ruhm, von dem er ewig würde zehren können. Die meisten gingen erschlagen von wüsten Komplimenten wieder heim. Tule zeigte sich unerbittlich, er wusste, dass die Frau Intendantin sein Verhalten goutieren, dass sie mit ebenso strenger Hand verfahren würde, wie er es tat. Er war nur der verlängerte Arm, ein Werkzeug, mehr nicht. Da waren hohe Maßstäbe eine Selbstverständlichkeit, da konnte er gar nicht anders. Das Problem nur war, es gab kaum genügend Bewerber für die vielen Rollen. Von dem guten Dutzend Einwohner, das vorstellig wurde, hätte man keinen einzigen wieder wegschicken dürfen.
Und dann betrat zu allem Übel auch noch Magnus die Bühne. Der Lehrer. Tule deutete sein Erscheinen als Affront. Was wollte er hier? Vorspielen? Für welche Rolle denn? Wen wollte er mimen? Haegstad, Begriffenfeldt oder Huhu? Er war kein Schauspieler, er war Lehrer, nicht einmal ein besonders guter. Um sein Können unter Beweis zu stellen, hatte Magnus sich für Dantons Tod entschieden. Genauer gesagt, für die Rolle des Robespierre. Als er mit den Worten »Ich weiß nicht, was in mir das Andere belügt« endete, blickte er Tule mit funkelnden Augen und voller Angriffslust an.
Tule verschränkte die Arme, streichelte mit Zeigefinger und Daumen sein Kinn entlang und sagte: »Ich weiß nicht.«
»Bitte?«
»Am liebsten wäre es mir, du kämst noch mal rein und alle, die wir hier sind, vergessen einfach, was wir gerade eben zu sehen und zu hören bekommen haben.«
»Was soll das heißen?«
»Dass ich dir anbiete, dein Gesicht zu wahren.«
»Nicht nötig. Ich bin kritikfähig. Nur raus mit der Sprache.«
»Du möchtest ernsthaft, dass ich dir jetzt und hier vor allen anderen und der Frau Intendantin erkläre, was genau mein Missfallen erregte?«
»Selbstverständlich. Nur keine Scheu.«
»Herrje«, seufzte Tule, »ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll, mein Lieber. Also, deine Modulationen sind ein Witz, leider kein guter, und du verhackstückst den Text. Du musst mehr auf den Punkt sprechen, mehr auf die Stimme drücken und insgesamt präsenter sein. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Arbeite doch mal mit Zäsuren, Pausen und Tempostauungen. Du solltest in keinem Fall eine Kiste aufmachen. Vielleicht musst du mehr in dich hineinhorchen, mehr verdichten, um uns etwas anbieten zu können, das uns wegbläst. Mir fehlt da nicht ein Mehr an Emotionalität, als vielmehr deine Antwort auf die Frage, was du mit deiner Figur ausdrücken möchtest, wie du sie situativ begreifbar machen willst. Ach, und noch etwas: Unterlasse doch bitte dieses manierierte Beiseitesprechen und melodramatische Stampfen, das ist selbst deiner unwürdig. Komm doch einfach noch mal durch die Tür. Mein Lieber.«
»Unwürdig?« Magnus versuchte seinen Zorn, so gut es eben ging, hinter der Andeutung eines Lächelns zu verbergen. Dieser Junge war 18 Jahre alt, bis vor kurzem noch sein Schüler und nun benahm er sich, als habe er tausend Jahre in Genialität geruht, während die Welt um ihn herum immer dümmer wurde, als habe er sich mit Theater betrunken und müsste nun alles wieder auskotzen. Als wäre er von Bedeutung. Dieser Junge war nicht von Bedeutung. Er war ein Kretin! Von der Frau Intendantin hätte er sich alles sagen lassen. Aber von Tule? Nichts!
»Ein Schauspieler, mein junger Freund, fragt sich, was er von dem Menschen, in dessen Rolle er schlüpft, weiß. Er fragt sich, wer dieser Mensch ist, was er morgens frühstückt, welche Kleidung er bevorzugt, was er denkt, wenn er auf der Toilette sitzt oder sich den Bart rasiert. Als Schauspieler musst du dich der Rolle hingeben, deine
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