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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Einzlkind
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Plätze der besseren Gesellschaft. Selbst hier also schien es keinen ausreichenden Nährboden für die sozialistische Gleichmacherei zu geben, dachte sie. Der Rundbau schaffte Nähe, eine intime Atmosphäre, notgedrungen, ob er/sie/es wollte oder nicht. Die Zuschauer waren tuchfühlend dabei, ganz nah am Bühnengeschehen, am richtigen Leben im falschen. In den ersten Reihen konnten sie die Schauspieler beinahe berühren, sie konnten ihren Atem spüren und ihren Schweiß riechen, sie konnten sehen, ob sie unsicher waren oder in Spiellust ertranken. In der Mitte der Bühne war eine Falltür angebracht, die ins Untergeschoss führte, dort, wo es auch nicht besser war, nur feuchter.
    Gretchen Morgenthau nahm einen Stuhl von der Empore, stellte ihn in die Mitte des Rondells, setzte sich, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme und atmete tief ein. Es roch nach Holz und Leim, nach Farbe und Metall. Komisch, dachte sie. Es roch nicht nach Shakespeare. Es roch nach Brecht. Den sie nie mochte. Bernhard mochte sie, aber Brecht, nein, Brecht nie. Sie hatte auch nie ein Stück von ihm inszeniert. Unzählige Diskussionen waren die Folge ihrer Weigerung, immer und immer wieder. Aber sie mochte keine Kleinbürgerhochzeit, da blieb sie stur. Seine Frisur mochte sie auch nicht. Sie nannte ihn immer nur den epischen Hurenbock. Die Weigel dafür mochte sie umso mehr. Dabei war sie ihr nur ein einziges Mal 1968 am Berliner Ensemble begegnet. Eine wunderbare Frau, sagte sie immer, eine wunderbare Frau, und das sagte sie nicht oft. Wie nur, fragte sie sich, wie nur konnte man eine solch wunderbare Frau betrügen? Was für ein schlechter Mensch musste man sein, um so etwas zu tun? Sie selbst war Zeit ihres Lebens immer monogam in Beziehungen. Wenn es sich einrichten ließ. Wenn es sich nicht einrichten ließ, war sie selbstverständlich nicht monogam. Wie hätte das auch gehen sollen? Wahrhaft treu war sie immer nur dem Theater, selbst dann, wenn sie es verließ. Sie erinnerte sich noch an den Tag, als ihr Vater sie zum ersten Mal mit ins Theater nahm, an ihre erste Begegnung mit dieser wundersamen Welt. Es war der 16. Oktober 1955. Es war die erste Vorstellung im wieder aufgebauten Burgtheater. Ottokar hatte sich gegen Egmont durchgesetzt, die Reaktionären bekamen wie verlangt ihren geschändeten Grillparzer. Skandal gehörte praktisch zum guten Ruf. Völlig normal. Das Volk war entzückt, es musste nicht mehr ins Ronacher, es ging wieder in die Burg, eine ganz andere Qualität, gar nicht zu vergleichen. Es war ein frischer Herbsttag, sie stiegen vorher aus, um noch ein wenig durch die Stadt zu schlendern. Der Vater hatte ihr an einem Straßenstand gebrannte Mandeln gekauft, die noch warm waren und im Mund klebrige Süße hinterließen. Sie konnte sich noch an den Verkäufer erinnern, an die schmutzigen Hände, die fettigen Haare und auch daran, dass er nur noch ein Auge hatte. Als sie ihn fragte, wo sein anderes Auge sei, sagte er, dass er es herausschneiden musste, da es mehr als genug gesehen habe. Ihrem Vater war das unangenehm, ihr nicht. Aufgeregt war sie, das erste Mal durfte sie zu einer Erwachsenenveranstaltung mit, spät abends, es war schon dunkel, und die Laternen tauchten Wien in ein geheimnisvolles Licht. Als sie den Vorplatz erreichten, stieg ihre Neugier in schwindelerregende Höhen. Die Burg sah aus wie Stolz. Und je näher sie kam, desto zaghafter wurde sie. Als sie das Eingangsfoyer betrat, musste sie erst einmal tief durchatmen, bevor sie weitergehen konnte. Sie war beeindruckt, und sie war überrascht, wie sehr sie es war. Weniger von Tand und Prunk, von goldenen Leuchtern, roten Läufern, Säulen, Putten, Feststiegen und Decken voll mit Matsch und Klimt, als vielmehr all der Menschen wegen, die gekommen waren, die unendlich viel Zeit damit verbracht hatten, schön zu sein, für diesen Abend, der ein besonderer war, ein Kleinod für die Schublade mit den Erinnerungen. Sie musste alles erkunden, wollte alles sehen, und als sie die ersten Stufen emporstieg, fiel ihr auf, dass auch sie gesehen werden wollte. Und den Gefallen tat man ihr, es fiel niemandem besonders schwer, denn sie zu übersehen war nur den Blinden möglich. Sie trug ihre langen blonden Haare streng nach hinten gekämmt, aber offen. Sie hatte ein schlichtes schwarzes Kleid an. Wilma, eine Freundin der Familie, die später von allen nur die zweite Coco Chanel genannt wurde, hatte es extra für diesen Abend angefertigt. Klassischer Schnitt,

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