Gretchen
älter wurde, dass ihr Körper ermüdete, dass ihre Züge sich änderten, da war sie irritiert. Sie war eigentlich davon ausgegangen, dass sie ewig jung bleiben würde. Auch im Alter. Zwei, drei Falten, das war’s. Es war eine große Enttäuschung, als sie feststellen musste, dass die freien Radikale in ihrem Fall nicht willens waren, eine Ausnahme zu machen. Sie fühlte sich persönlich beleidigt und nahm ihnen das richtiggehend übel, den Radikalen. Mit Sechzig noch färbte sie ihre Haare kastanienbraun, bis sie erkannte, dass Silbergrau eine Eleganz hatte, die durch keine Färbung der Welt je zu erreichen gewesen wäre. Fortan trug sie ihr Alter mit Würde und mit Sensai Cellular Performance und Diamant de Beauté und Perles de Jeunesse. Hauptsache, sie wurde im Kopf nicht alt, sagte sie immer. Sie hatte doch Zwanzigjährige kennengelernt, die sehr viel älter als sie waren, die eigentlich schon tot waren in ih rem Leben als Excel-Tabelle, und die fälschlicherweise annahmen, Jungsein sei ein Zeugnis für Dummheit. Manchmal war sie traurig, alt zu sein, aber nie lange, es reichte nicht einmal für eine richtige Depression, dabei wollte sie immer einen eigenen Psychiater haben, den sie einmal die Woche verrückt machen konnte. Das war ja nicht nur ein Statement, ein eigener Psychiater, das war ein Statussymbol. Aber obgleich das Alter in ihrem Leben eine Rolle spielte, eine recht große Rolle, so war es doch nur eine unter vielen Rollen. Manchmal gab es sogar Momente, auch heute noch, in denen sie für einen kurzen Augenblick aussah wie ein Mädchen, ein klein wenig scheu, verlegen und fast schon verloren, immer dann, wenn etwas völlig Unvorhersehbares passierte, wenn sie um eine Ecke bog, plötzlich das Rasierwasser ihres Vaters roch und es aus heiterem Himmel platzregnete, immer dann also, wenn ein Vanilleeis wie Freibad 1959 schmeckte.
Sie wählte schlichte Garderobe für das Vorsprechen aus. Pistol Boots, blickdichte schwarze Strumpfhose, dunkelgrauer Rock und hellgraues Top von Christian Lacroix, dazu eine weinrote Strickjacke von Sonia Rykiel. Als Accessoire trug sie ein Buch von Tennessee Williams. Endstation Sehnsucht. Es passte farblich einfach sehr schön. Waldgrüner Leineneinband. Très chic.
Als sie die Haustür öffnete, schlug ihr die Sonne rechts und links ins Gesicht. Das hätte sie nicht machen sollen, das dumme Ding. Sie zog ihre Oversized-Sonnenbrille von Nina Ricci an und ignorierte den Feuerball bis zu seinem verdienten Untergang.
Ihr persönlicher Assistent wollte sie eigentlich abholen, aber sie verzichtete auf den Service. Es wäre unnötig gewesen. Sie vergaß nie einen Weg, den sie einmal gegangen war. Sie besaß einen Orientierungssinn, der sie bisweilen selbst erschreckte. Sie konnte sich sogar noch an die Berberitze erinnern, die sie kratzen wollte, und an den Wacholderbusch, der einfach so im Weg stand. Die frische Luft war wunderbar, ein großes Glück, sie einatmen zu dürfen, redete Gretchen Morgenthau sich ein, glaubte aber keine einzige Sekunde selbst daran. Frischluft war für Heidis.
Im Theater wartete man schon auf sie. Auf die Frau Intendantin. Sie grüßte mit einer flüchtigen Handbewegung, Zeit gab es keine zu verlieren, Zeit war ein Monster. An der Bühnenrampe standen drei Tische und drei Stühle. Mit Namenszetteln. Sie setzte sich in die Mitte. Rechts ihr Regieassistent, links ihr persönlicher Sklave. Sie ließ sich ein Glas stilles Wasser einschenken, machte sich auf das Schlimmste gefasst und verdreifachte ihre Befürchtung, als der erste Peer Gynt das Vorsprechen eröffnete. Er sah blass aus. Verwahrlost. Nicht gut. Eine Kombination aus Fledermaus und Vogelscheuche. Lori nannte er sich. Er war komplett schwarz gekleidet, Jeans, T-Shirt, Schuhe, alles schwarz. Auch seine Fingernägel, die nachlässig lackiert waren, schimmerten schwarz. Seine schwarzen Haare hingen strähnig vor seinem Gesicht. Unmöglich, das genaue Alter auszumachen. Seine Stimme klang wie Kermit der Frosch auf Valium. Obgleich jung, rasselte sie schwerfällig und monoton dahin, als trügen ihre Worte alles Leid der Welt zutage. Auf die Frage, wie er sich selbst beschreiben würde, antwortete er mit einem schwermütigen Seufzen und dem Wort: Optimist. Er erzählte, dass er nicht wisse, weshalb man ihn auf diesem Planeten vergessen habe, dass er sich nicht wohl fühle unter all den Außerirdischen und er gerne heimgehen würde.
Daraufhin lehnte Gretchen Morgenthau sich zurück, übergab die
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