Gretchen
Persönlichkeit vergessen, ja, dich selbst vergessen und ganz die Maske sein, die du trägst. Und natürlich müssen wir uns fragen, ob wir wahren Schauspieler nicht alle Kinder Stanislawskis sind, die in bedingungsloser Selbstaufgabe in eine Rolle hineingebären. Nur die Dimension der Angleichung sollte uns Kopfschmerzen bereiten. Die Mimikry oder die Mimesis? Möchten wir nur vortäuschen oder uns gar selbst aufgeben? Sind wir alle nur Kopisten? Oder sind wir mehr als das? Ich sage ja! Ja zum Opfer! Als Schauspieler musst du sterben, um leben zu können!«
»Äh, ich glaube, dieses ästhetisch-idealisierte Geschauspiele ist überholt. Es ist nicht mehr nötig, dass ein Schauspieler in einer Rolle aufgeht und sich selbst verleugnet, noch dass er ironisch darauf hinweist, dass er als Schauspieler weiß, dass er spielt, und der Zuschauer ebenfalls weiß, dass er weiß, dass alle wissen, dass alles nur Spiel ist. Lass es mich mit den Worten meiner Helden sagen: Wir wollen keine Nähe, wir wollen Distanz.«
Und dabei drehte sich Tule auffällig zu Gretchen Morgenthau hin, als wäre sie seine Verbündete, als würden sie gemeinsam die Postmoderne überwinden und in eine neue Gedanklichkeit reisen.
Doch Gretchen Morgenthau war nie gerne Verbündete. Außerdem hasste sie solche Diskussionen. Zumal von Laien geführt. Es war doch immer das gleiche Schema, die ewige stümperhafte Frage, ob Platon oder Aristoteles, Stanislawski oder Brecht, Bugs oder Bunny. Und sie hörte wieder all die Stimmen, die hitzig das Performative, das Basische an sich verteidigen oder eben all den selbstreferenziellen Murks der Neoavantgardisten und Antirealisten zutiefst verachten. Ein ermüdendes Geplänkel, insbesondere wenn es hieß: verständnisvolles Repräsentationstheater versus diskurspoppige Tralalainszenierung. Wie satt sie das alles hatte.
Als Tule merkte, dass von der Frau Intendantin kein Kommentar zu erwarten war, drehte er sich wieder zu Magnus um und sagte: »An welche Rolle hast du eigentlich gedacht? Das ist mir ja auch noch völlig schleierhaft.«
Magnus war dankbar, keine Lokomotive zu sein, denn sonst würde er aus allen Schloten dampfen, dachte er. »Ich könnte mir in aller Bescheidenheit Monsieur Ballon vorstellen.«
»Oh, das ist schlecht. In die Rolle des Monsieur Ballon habe ich in Gedanken schon einen kleinen Gesangspart reingeschrieben.«
»Das macht zwar keinen Sinn, aber bitte schön, kein Problem. Ich habe, falls du dich erinnern magst, in unserer Laienspielgruppe den Orpheus in Orpheus und Eurydike gesungen.«
»Den Kastraten?«
»Den Countertenor! Den Eunuchen habe ich als Truffaldino in Gozzis Turandot gegeben!«
»Ah. Um mal Klartext zu reden: Ich bin einfach nicht sicher, ob du für irgendeine Rolle geeignet bist. Aber das möchte ich natürlich nicht selbst entscheiden. Da bin ich ja gar nicht befugt.« Und dann drehte Tule sich um, zu seiner Linken, zu Gretchen Morgenthau, und fragte: »Was meinen Sie, Frau Intendantin?«
Gretchen Morgenthaus einzige Empfindung war grenzenlose Gleichgültigkeit mit einem Hauch von Entsetzen. Es wurde alles nur schlimmer und schlimmer. Aber dieser lächerliche Disput hatte auch etwas Gutes. Sie wusste nun endgültig, dass sie mit dieser ganzen Farce nichts zu tun haben wollte. Das war nicht ihre Angelegenheit. Das war gar nichts. Nichts. Und dann kam ihr eine wunderbare Idee. Eine so wunderbare Idee, dass sie beinahe gelächelt hätte. Sie stand auf und gab ihrem Regieassistenten ein Zeichen ihr zu folgen. Sie ging vor, bis Tule sie einholte, bis sie außer Hörweite für die anderen waren. Sie schritten nebeneinander den unbestuhlten Innenhof ab.
»Mein lieber Kule …«
»Tule.«
»Bitte?«
»Tule.«
»Ach ja, mein lieber Tule, mir ist aufgefallen, dass du dir ein breites theoretisches Wissen rund ums Theater angeeignet hast …«
»Theater ist mein Leben.«
»Ja, natürlich, das merkt man sofort. Und ich glaube, dass du trotz deiner jungen Jahre schon zu Großem fähig bist. Wenn mich nicht alles täuscht, ruht, ach was, wütet eine gottgewollte Begabung in dir. Ich spüre da eine Genialität, ganz selten, so etwas, ganz selten. Um das Ganze etwas abzukürzen: Was hältst du davon, selbst zu inszenieren? Das kommt jetzt natürlich etwas plötzlich, aber jemand wie du hat doch keine Angst, jemand wie du ist von Mut beseelt. Ich würde einmal die Woche einer Probe beiwohnen und die ein oder andere kleine Korrektur vornehmen. Falls ich Zeit
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