Gretchen
Frau von Welt war überrascht. Kyells Augen wirkten plötzlich eiskalt und selbst seine spärliche Mimik schien wie eingefroren. Er meinte das anscheinend furchtbar ernst. Sie war ganz entzückt von seiner Naivität. Das war irgendwie süß. Er glaubte tatsächlich, sie würde ein von Parasiten befallenes und schlimmste Krankheiten übertragendes Federvieh auf Händen nach Hause tragen und es dort mit Würmern oder Weißdergeierwas füttern, damit es wieder fliegen und jemand anderem vor die Füße plumpsen konnte. Unfassbar naiv. Sie wusste aber auch aus eigener Erfahrung, dass Urvölker mit ihren Heiligtümern keinen Spaß verstanden, seit sie einmal in Mumbai einer Kuh über die Straße geholfen hatte. Mit einem freundschaftlichen Klapps auf den Hintern. Mit einer Metallstange. Und sie wusste nicht, wie fanatisch die Eingeborenen dieser Insel so waren. Um die Situation nicht eskalieren zu lassen und als Zeichen ihres guten Willens, überlegte sie, einfach draufzutreten und weiterzugehen, als wäre nichts geschehen. Da hätte jeder sein Gesicht wahren können, bis auf das Federdings natürlich. Das Problem waren nicht die Absätze. Zehn Zentimeter würden reichen. Das Problem war, dass es sich um Schuhe von Valentino handelte. Jeder halbwegs normale Mensch bei klarem Verstand wusste, dass Papageiengedärm und Schuhe von Valentino eine mehr als nur unglückliche Kombination darstellten. Sie zog ihre grünen Lederhandschuhe von Louis Vuitton an, die sie danach zweifelsohne entsorgen konnte, und hob das defekte Flugobjekt vorsichtig vom Boden hoch. Es roch nach Lebendigem. Nach Biologie. Es sagte Orrk. Und es war nicht schön, denn es stank nach Fisch, das Orrk. Sie plante, es zuhause mit einem Bindfaden zu erwürgen und auf Nachfrage dem persönlichen Assistenten zu erzählen, es habe sich beim Seilchenspringen selbst stranguliert. Bei so einem Tölpel gewiss nichts Ungewöhnliches, das passierte sicher alle Nase lang.
»Ich glaube, es ist eine Sie«, sagte Kyell.
»Es ist ein Er.«
»Aber …«
»Er.«
»Und wie heißt Ihr Puffin?«
»Bitte?«
»Sie müssen ihm einen Namen geben.«
»Muss ich das?«
»Ja.«
»Ach.«
Die Angelegenheit wurde immer abstruser. Sie nahm Ausmaße an, die das Ertragbare in kritische Gefilde führte. Gretchen Morgenthau überlegte kurz, schaute noch einmal auf das Häufchen Elend in ihren Händen und sagte: »Charles Manson.«
»Das ist aber ein schöner Name, Charles Manson. Wo kommt der her? Von einer Berühmtheit? Ist er ein Präsident oder ein Musiker oder ein Maler?«
Was stimmte nicht mit diesem Jungen, dachte Gretchen Morgenthau, war er ein Alien?
22
Pilze sammeln gehörte in Gretchen Morgenthaus Leben zu den noch unbekannten Leidenschaften. Sie wusste auch nicht zu entscheiden, ob es auf der Welt noch glamourösere Dinge zu entdecken gab. Leichtsinn hatte sie in diese Situation manövriert. Purer Leichtsinn. Zwei Tage war sie kaum aus dem Haus gekommen. Sie hatte in dieser Zeit versucht zu telefonieren und Charles Manson das Seilchenspringen beizubringen. Beides ohne Erfolg. Der Empfang war eine einzige Katastrophe und der dumme Vogel wollte immer nur essen. In ihrer spärlichen Freizeit las sie in einem der Bücher aus der Bibliothek oder sie war damit beschäftigt, den Bürgermeister abzuwimmeln, der ihr ständig aufwarten wollte und mit flotten Sprüchen begeisterte wie: »Theater ist ja eigentlich nicht so ganz mein Revier. Ich bin mehr so cinématographe. Witz gemacht. Ha. Witz. Das war ein Witz. Sie haben das verstanden, oder?« Nein. Abends kochte ihr persönlicher Assistent für sie, und sie war überrascht, wie gut er das machte. Gestern, als es schnell gehen musste, gab es eine Humus-Suppe mit Feta, grüner Minze, Koriander und Guajillo-Chilis, die nach Jerusalem duftete, dazu wurde ein selbst gebackenes Sesam-Bananen-Brot gereicht. Als Nachspeise gab es eine Variation aus Snickerdoodles mit Safran und Vanille und Erdbeer-Rhababer-Crumbles mit Pinienkernen und schwarzem Pfeffer. Wenn es nur nach ihr gegangen wäre, hätte es noch hundert Jahre so weitergehen können. Aber ihr fiel die Decke auf den Kopf, und so fragte sie am dritten Tag ihren persönlichen Assistenten, zu welchem Abenteuer sie ihn begleiten könne. Da Pilzragout auf dem Speiseplan stand, ging es in den Wald. Und dort stand sie nun, mittendrin, und sammelte Pilze mit ihrem Knappen. Der Knappe sprach in kryptischen Lauten von Goldröhrling, Rothäubchen und Frauentäubling, von Schmerling,
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