Gretchen
habe.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich.«
Tule war begeistert. Er liebte Herausforderungen. Er liebte Sprünge ins kalte Wasser. Das war sein Element, kaltes Wasser. Er überlegte kurz, ob es sich um eine Falle handeln könnte, schob die dummen Gedanken aber beiseite, es gab überhaupt keinen Grund dafür, und er fühlte sich geschmeichelt, auch wenn er das nie zugegeben hätte, und so sagte er in lässigem Ton: »Es wäre mir eine Ehre.«
»Wunderbar. Dann wäre das auch geklärt. Offiziell bleibst du natürlich Regieassistent, das hat aber nur formelle Gründe, Bewährungsauflagen, du verstehst.«
»Selbstverständlich, nur eine Bitte hätte ich noch.«
»Ja?«
»Ibsen, ich bitte Sie, der alte Frauenversteher mit seinem Bauernburschen Peer und seiner Märtyrerin Solveig, und dann auch noch die Zwiebel, jetzt mal ganz unter uns, diese olle Kamelle geht doch gar nicht, das ist alles so gestrig und fürchterlich kitschig, damit lockt man doch selbst hier keinen mehr hinter dem Ofen hervor. Ich weiß nicht, ob Sie Zombie Pauls Audio Spasti: Tapete in Systemstruktur geht gar nicht kennen.«
»Zombie Paul?«
»Ja. Ein Neuerer. Mit einer sehr interessanten Bio. Vom Preisboxer zum Poeten, vom Fensterputzer zum Doktor der Physik, ein wirkliches, ein hartes Leben, ohne Schutzfolie, nackt. Und ein sehr existenzialistisches Stück. Es geht in Richtung Ravenhill und Sarah Kane, Sie wissen schon, psychotische Obsession gepaart mit Dystopie. Nur wesentlich gewagter. Und richtig schick. Ein Mann rennt im Repeatmodus gegen eine Wand und liest dabei von seinem Einkaufszettel ab. Sein bester Freund ist ein bisexueller Mehlwurm auf Opium. Dazu Tänzer, die in Föten-Kostümen zu Death Metal von den Cannibal Corpse im Viervierteltakt Hühner köpfen. Echte natürlich. Bei der Choreografie dachte ich an eine Mischung aus Davies, Forsyth und Bausch. Aber für eine perfekte Inszenierung wären natürlich professionelle Mitstreiter nötig …«
»Bausch?«
»Ja, ich weiß, tot, aber genial.«
»Ich …«
»Grüße.«
»Bitte?«
»Wenn Sie sie sehen.«
»Das reicht, danke. Es bleibt bei Peer Gynt.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
Gretchen Morgenthau entließ Tule aus der Gefolgschaft und winkte ihren persönlichen Assistenten herbei. Sie zeigte auf ihre Falabella Bag, die noch an ihrem Stuhl hing, die er mitbringen sollte, die sie auf keinen Fall vergessen durfte, ihr ganzes Leben war darin verstaut.
Als sich Tules und Kyells Wege kreuzten, blickten sie aneinander vorbei, als wären sie Fremde, nie gesehen, nie gekannt. Gretchen Morgenthau interessierte sich nicht für die atmosphärischen Spannungen zweier Freunde. Frohgemut ob ihrer brillanten Idee stürmte sie voran, sie wollte noch ein wenig über die Insel flanieren, sich langweilen, gut essen, lesen und gegen Abend das Nachtleben erkunden. Das heißt, einen Ausschank finden, der Hochprozentiges feilbot. Ihr persönlicher Assistent sollte sie zu den entsprechenden Etablissements führen, zu irgendetwas musste er ja gut sein. Sie öffnete das Tor, und die Freiheit umarmte sie wie eine lang verschollene Schwester. Sie schloss die Augen für einen kurzen Moment, und dieses längst vergessene Gefühl jenseits von Verantwortung für irgendetwas oder irgendwen fiel hemmungslos über sie her. Ihre Künstlerseele hyperventilierte. Vielleicht, so konnte doch sein, gab es auf dieser Insel ja mehr zu entdecken, als es den Anschein hatte. Hurra, eine Reise ins Ungewisse, Abenteuer, dachte sie, Abenteuer wir kommen.
Weit kamen sie nicht.
Das Leben schlug mit äußerster Brutalität ein.
Ein Papagei fiel vor ihre Füße.
Er fiel einfach vom Himmel. Ungebremst. Als wäre er ein Stein. Aber er war kein Stein. Er lebte. Und das war nicht die einzige Ungereimtheit. Denn ein richtiger Papagei war er auch nicht. Er hatte die Augen einer Comicfigur, schwarzes Gefieder, einen weißen Brustkorb und rote Schwimmflossen an den Füßen. Die bemitleidenswerte Attraktion war der überdimensionierte Schnabel, der in grauviolett und gelborange leuchtete. Er sah aus wie ein Hab-mich-lieb-Spielzeug für kleine japanische Mangamädchen, die immer in die Hände kichern, wenn sie unsicher sind. Gretchen Morgenthau fragte sich, ob man es essen kann.
»Das ist Ihr Puffin«, sagte Kyell.
»Bitte?«
»Sie müssen jetzt für ihn sorgen, bis er wieder bei Kräften ist. Das ist Brauch.«
Gretchen Morgenthau lächelte nachgiebig. »Nun, meiner ist es gewiss nicht.«
»Sie müssen.«
Sie müssen? Die
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