Gretchen
Verpflichtungen rufen, leider.«
»Verstehe«, sagte Tuva, »ich packe noch zwei Stücke ein, falls es recht ist, für Kyell auch eins. Wie macht sich der Junge?«
»Großartig«, log sie. Der Kasper mochte bestimmt gar keinen Apfelkuchen, alles meins, dachte sie, hurra. »Ich bin nicht ganz sicher, wo ich bin. Wie komme ich von hier aus zu meinem Gasthaus?«
»Ganz einfach: Hinter dem Gestrüpp dort vorne geht rechts ein Weg ab, immer den Raben folgen, keine zehn Minuten von hier, nicht zu verfehlen.«
Sie bedankte sich mit einem angedeuteten Kopfnicken, nahm den Kuchen und den Korb mit all den Pilzen und machte sich auf den Weg. Ihre Begeisterung, dass sie immer mehr einem Wandervogel glich, hielt sich in sehr engen Grenzen. Sie rechnete die zurückgelegten Kilometer aus, einschließlich derer, die sie noch für den Heimweg benötigen würde. In Kopfrechnen war sie schon immer gut. In zehn Minuten ging sie schätzungsweise dreißig Kilometer, plus die zwanzig Kilometer am Morgen zum Briefkasten und die siebzig Kilometer im Wald, da war sie heute schon wieder über 250 Kilometer weit gegangen. Ein Wahnsinn. Bei den Kalorien, die sie verbrauchte, müsste sie eigentlich Size Zero tragen.
Es ging leicht abwärts, aber der Wind drehte. Er schlug ihr jetzt ins Gesicht und ihre Haare wehten hinterher und das Atmen wurde schwer, doch stolz hob sie den Kopf, sie trotzte der Natur, da war sie stärker, keine Frage. Sie war keine alte Frau, die spazieren ging, sie war eine Kriegerin auf der Suche nach einem neuen Schlachtfeld. Sie sah aus wie jemand, der postum in Geschichtsbüchern stand. Dabei interessierte es sie nie, was nach ihrem Tod aus ihrem Namen wurde. Das war ihr immer suspekt, dieser Wunsch, nachhallen zu wollen, apokalyptischen Weltenruhm zu erträumen. Das war nur etwas für kleine Jungs. Obwohl doch jeder wusste, dass selbst die großen Namen des Theaters außerhalb des kleinen Biotops der Eingeweihten kaum jemandem geläufig waren. Nein, Gretchen Morgenthau trachtete es nie nach postmortaler Ehre, im Diesseits wollte sie unsterblich sein, das Jenseits war ihr schnuppe. Sie mochte auch diese Unsitte der Legenden nie, sich in der Öffentlichkeit selbst klein zu machen, gemein mit dem gemeinen Volk, mit der anbiedernden Floskel versehen, den Bezug zur Normalität nicht verlieren zu wollen. Für Gretchen Morgenthau gab es kaum etwas Wichtigeres, als den Bezug zur Normalität zu verlieren. Normalität bedeutete in ihren Augen Apathie und Gleichschaltung, aber ganz gewiss nicht Kunst. Sie war groß. Punkt. Sie sah sich in einer Liga mit Bond, Brook und Chéreau, mit Stein, Zadek und Wilson. Es gab vereinzelte Stimmen, die das nicht so sahen. Die eine Breth oder eine Mnouchkine vorzogen. Unkluge Stimmen. Kleingeister, die gehässig krächzten. Sie hatte mittlerweile einen Status erreicht, der ihr Nachsicht erlaubte, auch wenn es schwer fiel. Und eigentlich hieß sie gar nicht mehr Frau Intendantin. Sie besaß auch keinen Vornamen mehr, sie besaß einen Artikel, einen bestimmten. Sie war: Die Morgenthau.
Als die Morgenthau ihr Gasthaus erreichte, war sie besserer Stimmung. Sie öffnete die kleine Gartentür, die immer so psychologisch quietschte, und schwebte in ihr temporäres Heim. Sie ging in die Küche, legte voller Liebe den Kuchen auf die Ablage, drehte sich um und verharrte für einen Moment in regungsloser Stille.
Charles Manson lag in seinem Lazarettnest neben dem gußeisernen Holzofen. Sie schauten sich an. Aber etwas stimmte nicht. Er sagte nicht wie sonst Orrk zur Begrüßung. Er schnappatmete und kippte ständig merkwürdig zur Seite. Wie in Zeitlupe. Ein sehr abstraktes Schauspiel. Verwirrend. Sie hätte stundenlang zuschauen können. Doch dann erwachte sie aus der tumben Katatonie. Sie packte Charles Manson am Nacken, schmiss ihn in den Korb mit den Pilzen und stürmte in Richtung Tierarzt davon.
Sie sah nicht nach links und nicht nach rechts. Nur geradeaus. Immer geradeaus. Für die hundert Kilometer brauchte sie keine vier Minuten. Size Zero, dachte sie, Size Zero wir kommen! Sie schlug die Praxistür auf, keine Menschenseele, nur der Herr Doktor selbst. »Reparieren Sie den Vogel, sofort!«
Tykwer saß auf seinem Behandlungsstuhl. Mit notdürftig zugeknotetem Morgenmantel in zeitlos fleckigem Grau, einer Trompete in der linken Hand, einer runtergebrannten Zigarette im Mundwinkel und pinkfarbener Sonnenbrille auf der Nase. Sein linker Fuß steckte in einer Tennissocke, der rechte lag nackt
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